Die Narben im Nordosten

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Bevormundung, Solidarität und Vergangenheitsbewältigung an der Küste der ehemaligen DDR.

Im äußersten Nordosten Deutschlands liegt ein Land mit stillen Seen, endlosen Alleen und einer Küstenlandschaft, die seit der Wiedervereinigung der Bundesrepublik mit der DDR viele Besucher, aber auch wagemutige Unternehmer aus dem Westen Deutschlands anzieht: Mecklenburg-Vorpommern mit seiner mehr als 200-jährigen Tradition als Urlaubsregion. Findige Geschäftsleute in den neuen Bundesländern klagen über zu viel Staatsbevormundung. Sie sind um Lösungen nicht verlegen: Das deutsche Passagierschiff "Aida.Cara" mit Heimathafen Warnemünde an der Ostsee wurde 2005 "ausgeflaggt" und macht jetzt steuersparend unter italienischer Flagge seine Kreuzfahrten.

Protektionismus pur

Obrigkeitliche Bevormundung ist kein Phänomen der Gegenwart, berichtet doch Friedrich Barnewitz schon 1919 in seiner Geschichte des Hafenortes Warnemünde über protektionistisches Gehabe der nahe Warnemünde gelegenen Stadt Rostock: "Im übrigen können wir uns nur schwer eine Vorstellung machen von dem Leben in einem Ort, in dem wegen der lückenlos aufrecht erhaltenen Zunftverbote Rostocks kein Bäcker, kein Schlächter, kein Apotheker, kein Arzt wohnte und die übrigen Handwerker wie Schmiede, Tischler, Schneider, Schuster, durch zahlreiche Verbote beengt, ihrem Erwerb nachgehen konnten. Der Schmied durfte nur kalt schmieden, der Schuhmacher nur Ausbesserungen, dagegen keine Neuanfertigungen machen, Krämer durften Lebensmittel nur in beschränktem Maße halten, so dass sich die Warnemünder ihre Nahrung meist erst in Rostock kaufen mussten. So haben die Warnemünder jahrhundertelang hindurch leben müssen."

Protektionismus pur. Wie kam die Hansestadt Rostock dazu, den Hafenort Warnemünde, ihren eigenen Lebensnerv, derart zu knebeln? Weil ein anderes protektionistisches Gebilde, die Hanse, an Einfluss verloren hatte. Dieser "Verbund von Egoisten, die sich zur Durchsetzung ihrer Außenhandelsinteressen zusammengeschlossen hatten" (Rolf Hammel-Kiesow: Die Hanse, Verlag C. H. Beck, 2000), wird im deutschsprachigen Raum durchwegs positiv bewertet, während in den skandinavischen Ländern lange Zeit eine negative Sicht der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch die hanseatischen Kaufleute überwog. Niederdeutsche Kaufleute hatten Niederlassungen in Novgorod in Nordwestrussland, in Bergen in Norwegen, in Brügge in Flandern und in London.

Das Ende dieses halben Jahrtausends protektionistischen Handels - vom 12. bis ins 17. Jahrhundert - kam, als die Solidarität unter den Hansestädten sank und nicht-deutsche baltische Staaten entstanden: Litauen und Polen vereinigten sich 1386, Dänemark, Schweden und Norwegen formten 1400 eine Union, 1478 wurden die deutschen Kaufleute aus Novgorod vertrieben, und Mitte des 16. Jahrhunderts erlangten die Holländer die Kontrolle über den Handel vom Baltikum in den Westen.

Caorle des Nordens

Die Entdeckung der Neuen Welt tat ein Übriges, neue Handelswege zu etablieren. Die Reaktion Rostocks war: Wenn schon die großen Fische nicht mehr zu haben waren, sollten wenigstens die kleinen der Stadt gehören. Und so häuften sie Vorschrift über Vorschrift gegen die Warnemünder, etwa das Verbot, Schifffahrt zu betreiben. Sie durften lediglich Lotsen, Matrosen oder Fischer werden. Als Ende des 19. Jahrhundert eine Zugverbindung Berlin-Warnemünde eingerichtet wurde, entwickelte sich der Hafenort - wo die Warnow in die Ostsee mündet - zum Caorle des Nordens für die Berliner. Von da an bezeichneten die Warnemünder pauschal alle Badegäste als "de Berliners". Mit der Herausbildung Warnemündes als Badeort fielen 1867 die Gewerbebeschränkungen des 16. Jahrhunderts für die Bevölkerung weg. Nun konnte sich das Handwerk niederlassen und die Einwohner durften die Gäste selbst versorgen.

DDR-Verwüstungen

Mit der Badeherrlichkeit an der Ostsee war es nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei: Erst mussten Umsiedler untergebracht werden; 1953 enteigneten die Kommunisten alle Privatpensionen und Hotels. Ihre protektionistische Wirtschaftspolitik fand nach der Wende ein rasches Ende. Die Warnemünder Schiffswerft mit ihren 6000 Beschäftigten musste zusperren, ebenso wurde die Fischereiflotte abgewrackt, denn im wiedervereinigten Deutschland konnten nicht länger Seeleute nach Kuba ausgeflogen werden, um dort in Brudergewässern zu fischen.

Bevormundung durch den Staat hat aus der DDR ein devastiertes, vernachlässigtes Land gemacht, das seit der Wiedervereinigung ein Fass ohne Boden für Steuermilliarden zu sein scheint. Doch längst nicht alle Westdeutschen starren neidvoll auf "ihr" Geld, das in den Osten geflossen ist. Sie spenden zu Tausenden, besonders um Kirchenbauten vor dem Verfall zu retten, z.B. den Schandfleck der Hanse-Stadt Wismar: Die 1945 von zwei Bomben getroffene, bis 1990 absichtlich dem weiteren Verfall preisgegebene berühmte Kirche St. Georgen. Die Kirche gehört in die glanzvolle Reihe der großen Backsteinkirchen Nord-und Ostdeutschlands. Als 1990 bei einem Orkan Mauerteile der Kirche auf ein Wohnhaus fielen und ein Kind unter den Trümmern begraben wurde, kam die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, gegründet 1985 auf privater Basis, zu Hilfe.

Kulturdenkmäler saniert

Den Verantwortlichen der Stiftung wurde nach der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze mit einem Schlag bewusst, dass im Osten Kirchen-und Profanbauten, ja ganze Altstadtkerne von europäischem Rang in dramatischer Weise vom Verfall bedroht waren. 500.000 DM waren der Grundstock des Stiftungsvermögens. Inzwischen sind 340 Millionen Euro zur Rettung von mehr als 3000 bedrohten Denkmälern eingesetzt worden. Heute ist die Stiftung dank der großen Zahl privater Förderer die größte Bürgerbewegung für den Denkmalschutz in Deutschland. St. Georgen, das erste Förderungsprojekt der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in den neuen Bundesländern, hat jetzt wieder ein Dach.

Tristesse hinter Fassaden

Noch ist die Kirche vollkommen leer, ein einmaliger Anblick für eine gotische Kirche, doch die Nutzung für Konzerte und Vorträge läuft schon an. Re-Christianisierung ist angesagt, denn nur mehr neun Prozent der Bevölkerung in den neuen Bundesländern bekennt sich zum christlichen Glauben. Freiwillige, ältere Menschen, die ihre eigenen ohne jede Religion erzogenen jungen Landsleute durch Kirchen führen, wecken behutsam das Wissen um religiöse Symbole.

Das Küstenland Mecklenburg-Vorpommerns blüht wirtschaftlich auf: Jedes Dach ist neu, alle Privathäuser strahlen in frischem Putz, die Hotels im Stil der vorigen Jahrhundertwende sind renoviert, in der Gastronomie erinnert nur mehr die Soljanka-Suppe an die Zeit des sowjetischen Einflusses. Hatte Kanzler Kohl also Recht mit seiner Prognose von den blühenden Landschaften? Dem äußeren Anschein nach ja. Doch die Arbeitslosigkeit ist in Mecklenburg-Vorpommern am höchsten von allen deutschen Bundesländern. Die Jungen ziehen weg, und in den alten Bonzenhotels geht heute hauptsächlich westdeutsche Klientel aus und ein.

Bei Dünen-Spaziergängen stolpert man plötzlich über ein Stück rostigen Stacheldraht und sieht, bereits überwuchert von Gebüsch, Kasernen, von deren hohen Wachtürmen während der DDR-Zeit Nacht für Nacht Scheinwerfer die Küste absuchten nach Menschen, die in die nahe Freiheit fliehen wollten, nach Dänemark oder Schweden. Die Wachtürme mit ihren leeren Fensterhöhlen und darüber gemalten roten Augenbrauen (Ausdruck eines makabren Post-DDR-Humors) sind ein äußeres Zeichen für die Narben in den Köpfen und Herzen der Menschen, denen bisweilen unsensibel ihr früheres Leben in der Diktatur als eigenes Versagen angekreidet wurde.

Und die Alt-Kommunisten sind nicht in der Versenkung verschwunden; sie schwelgen vielmehr in Ostalgie. Die "Gemengelage von Akzeptanz und Auflehnung, Begeisterung und Verachtung, missmutiger Loyalität und Nischenglück" (Martin Sabrow, Vorsitzender der DDR-Aufarbeitungskommission), die das Leben in der Diktatur ausmachte, ist noch nicht bewältigt.

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