Die Nieten unseres Weltbildes

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Das weiße Südafrika des J. M. Coetzee widerspricht den Klischees vom weißen Südafrika.

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Das weiße Südafrika des J. M. Coetzee widerspricht den Klischees vom weißen Südafrika.

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Geschichten der Kindheit, gleichgültig, wo sie spielen, offenbaren Lesern mit einem Entdeckerblick Gewohntes, Alltägliches in neuer Gestalt und zeigen - sofern gut geschrieben - die Nieten, mit denen unser Weltbild zusammengehalten wird und die bei Erwachsenen durch Konventionen überwachsen sind. J. M. Coetzee beschreibt in seinem Roman "Der Junge" eine afrikanische Kindheit, aber eben nicht die Kindheit eines Schwarzen, sondern die eines Weißen und macht deutlich, wieviele Schattierungen zwischen Weiß und Weiß möglich sind. Zwischen jenen Weißen, die Briten sind - und den Buren, den Nachkommen deutscher und niederländischer Siedler, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einwanderten.

Der Held der Geschichte kommt aus einer Familie, "für die man sich schämen muß, in der nicht nur die Kinder nicht geschlagen, sondern die älteren Familienmitglieder mit dem Vornamen angeredet werden, in der keiner in die Kirche geht und an jedem Tag Schuhe trägt." Bereits diese Sicht der Welt, diese Einteilung in normal und unnormal rückt Weltbilder zurecht. In ihrer Kindlichkeit liegt eine Schärfe, mit der eine Gesellschaft und ihr Verhalten sonst nur schwer so knapp umschrieben werden kann. Die Kindheit in Worcester ist keine heile Welt und nichts bringt den Jungen auf den Gedanken, daß die Kindheit "etwas anderes ist als eine Zeit, in der man die Zähne zusammenbeißen und durchhalten muß." Juden und Katholiken erlebt der Junge als Minderheit, die der Wut der evangelischen Christen ausgesetzt sind. Das schärft seinen Gerechtigkeitssinn und verspricht ein Entfliehen aus diesem Alltag nur im Gewand und in den Gestalten angelesener und erträumter Helden. Die Solidarität mit Minderheitspositionen legt auch den Wegweiser für die jugendliche Zuneigung zu den Russen. "Daß er die Russen mehr mag als die Amerikaner, ist ein Geheimnis, so düster, daß er es keinem anvertrauen kann. Russenfreundlichkeit ist eine ernste Sache. Sie kann dazu führen, daß man geächtet wird." Wir schreiben 1947, die Zeit des Kalten Krieges.

Die Russen und die Schatzinsel, Captain Scott, erfroren in der Antarktis, und die Schneegans, die den Schiffen den Weg vom Strand von Dünkirchen zurück nach Dover zeigt: "Eines Tages möchte er so treu sein, wie die Schneegans". Diese dünnen, gewundenen Pfade aufzuspüren, die einmal zu ausgetretenen Wegen einer Weltsicht werden, die keinen Blick nach links und rechts mehr erlaubt, dies ist die Stärke des Buches von Coetzee. Daß der Junge eine Vorliebe für Cricket hat, stellt den wohlwollenden Leser jedoch auf eine harte Probe, denn Nachhilfeunterricht oder der Empfang eines der unseligen Sportsender täten not, um mit den Anspielungen aufs Cricket und dessen Helden etwas anfangen zu können.

Der Mutter hat der Junge viel zu verdanken, nicht nur die Einsicht, daß sie zu so vielen widersprüchlichen Meldungen gleichzeitig fähig ist, sondern auch, daß sie dem vierten Schwarzen, der dem Jungen in seinem Leben begegnet, Achtung entgegenbringen kann. Der Junge entspricht, wir haben es schon erwartet, nicht dem gängigen Typus des weißen Südafrikaners. In der Geschichtsstunde kann er auch der Erwartung nicht entsprechen, "daß man sich bei Geschichten über den Burenkrieg auf die Seite der Buren schlägt, die gegen die Macht des britischen Empires für die Freiheit kämpfen". Die Nachkommen der Buren erlebt der Junge als zornige Erscheinungen, als unversöhnliche Rhinozerosse, riesig, plump und kraftvoll, ohne Kultur, die Engländer aber als dem Zorn abholde Menschen. Doch das unmittelbare Erleben stellt auch eine starke Belastung für diese Nieten eines Weltbildes dar, sowohl in der einen wie auf der anderen Seite. Das Afrikaans wird für den Jungen eine gespenstische zweite Haut, "die er überallhin mitnimmt und in die er schlüpfen kann, wodurch er sofort zu einer anderen Person wird: schlichter, fröhlicher, leichtfüßiger."

Auf der Farm der Großeltern findet Coetzee Bezugspersonen wie den Farbigen Freek, der zum Land gehört und den er als Helden verehren würde, wenn das gestattet wäre. Der Junge wird kein Held, kein Lancelot, kein Artus, kein tollkühner Flieger oder Entdecker, sondern einer, der denkt, der sich erinnert, zumindest an die Geschichten der eigenen Familie, die Tante Annie und ihren Mann: "Ihm allein bleibt das Denken überlassen. Wie soll er sie alle im Kopf behalten, all die Bücher, all die Menschen, all die Geschichten? Und wenn er sich nicht an sie erinnert, wer dann?"

Der Junge. Eine afrikanische Kindheit Roman von J. M. Coetzee, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1998, 199 Seiten, geb., öS 248,-

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