Die Normalität der Gespenster

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"Ähnlich wie bei Fernando Pessoa aus dem fernen Portugal hält die Kunst auch bei Kubin bloß die Lebensspannung aufrecht, die Angst bleibt laut Eigenaussage sein größtes Kapital. " Hartwig Bischof

Ein Großmeister der Zeichnung des 20. Jahrhunderts bietet in dieser Schau Einblicke in seine Zeit, seine Meisterschaft, die Möglichkeiten der Zeichenkunst und ein wenig auch in sein Inneres. Geboren wurde er in Kakanien, wo nach Musil die Verfassung liberal, die Regierung aber klerikal war, wo klerikal regiert wurde, man aber freisinnig lebte, wo alle Bürger vor dem Gesetz gleich waren, aber im Gegenzug nicht alle Bürger waren und von dem die Welt damals nicht wusste, dass es der fortgeschrittenste Staat war. Und Kubin hat auch zeitlebens dort gearbeitet, gelitten und das Scheitern höchst erfolgreich aufs Papier gebracht. Traumatisiert durch den frühen Tod der Mutter, durch andauernde Misserfolge während der Ausbildungszeit, durch den Militäreinsatz im Ersten Weltkrieg, der im Selbstmordversuch gipfelt, fallen schließlich Kunst und Leben in eins.

Immer wieder überfallen ihn bizarre Gesichte, aber statt sich von ihnen in die Knie zwingen zu lassen, protokolliert er sie skizzenhaft, um sie anschließend zeichnerisch zu bannen. So könnte man meinen, die Gesichte - wie aus Freuds gleichzeitig stattfindender Deutung der Träume - hätten sich zu einem Gesicht verdichtet, die Maske als persona hätte sich zu einer Person in unserem landläufigen Verständnis entwickelt. Weit gefehlt, in seinem Roman "Die andere Seite" legt er dem autobiografischen Ich-Erzähler ein Geständnis in den Mund: "Da fand ich zu meinem Schrecken, dass mein Ich aus unzähligen Ichs' zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem anderen auf der Lauer stand." Ähnlich wie bei Fernando Pessoa aus dem fernen Portugal hält die Kunst auch bei Kubin bloß die Lebensspannung aufrecht, die Angst bleibt laut Eigenaussage sein größtes Kapital. Folgerichtig sind Geburt und Tod die beiden frei schwebenden Säulen, auf denen seine Kunstbrücke aufruht.

Kubin lässt uns in seinen Bildern immer durch einen Zwiespalt lugen, sei es jener der gesellschaftlichen Verfasstheit in Kakanien, sei es jener des individuellen Spiels zwischen Maske und Person. Die Dominanz des Auges überbietet dabei alles, allerdings durchaus im gleichen Zwiespalt. Auf dem Blatt "Das Grausen" aus dem Jahr 1903 erscheint der Tod vor einem sinkenden Schiff, auf dem bezeichnenderweise zwei Personen gegen den drohenden Untergang ankämpfen, mit einem riesigen Auge. Wie der Zeichner selbst behält der Tod mit seinem gigantischen Sehinstrument alles im Blick, Künstler und Rezipient werden hin und her gestoßen zwischen der Entscheidung, sich mit den Personen auf dem Boot zu identifizieren, und jener, als Betrachter die Augen genauso weit aufzureißen wie der Tod. Dabei existiert auch der Tod ebenso im Zwiespalt zwischen dem bloßen Lebensrest der Knochen, aus denen er besteht, und den noch lebendigen Teilen, den Augen und dem kraftvollen Hals einer Seeschlange, der ihn aus den Wassermassen hinauskatapultiert. Nur eine Allmacht bleibt ihm, er markiert den Oberaufseher, der aus den endlosen Tiefen unter der aufgewühlten Meeresoberfläche hervorschießt und dem nichts entgeht. Das Boot - eine Arche? - treibt mit gebrochenem Mast dahin, völlig dem ausgeliefert, was aus dem darunter liegenden und das Boot tragenden Raum hervorbricht.

Damit dockt Kubin mit seinen Arbeiten aus - dem längst vergangenen? - Kakanien an jenen Rahmen an, den zeitgenössische Medientheoretiker in die Diskussion werfen. Der submediale Raum - die Arbeitsfläche, das Unbewusste, die Gesellschaft, auch Gott - als Träger aller Zeichen, die auf uns einwirken, bleibt prinzipiell unzugänglich; es lässt sich nicht entscheiden, ob das, was an die Oberfläche dringt, bloß Gespenster sind, die vor uns hinspuken oder ob dabei tatsächlich ein wenig vom Geheimnis preisgegeben wird. Wir scheinen ausweglos in die paradoxe ewige Wiederkehr des Überraschenden, Unvorhergesehenen und Unerwarteten eingebunden zu sein. Und Kubin hat es für uns aufgezeichnet.

Bis 6. 1. 2003

Mi.-Mo. 10-19 Uhr, Fr. 10-21 Uhr.

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