"Die Pfaffen sind alle gleich"

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Vladimir Vertlib erzählt in seinem neuesten Roman von Zwängen aller Art - auch solchen, die einen (nicht) ins Grab bringen.

Gabriel Salzinger möchte den letzten Wunsch seines Vaters erfüllen und ihn auf dem jüdischen Friedhof begraben lassen. Neben seiner vor langer Zeit verstorbenen Frau. Das sollte kein allzu schwer zu erfüllender letzter Wunsch sein. Möchte man glauben.

Vladimir Vertlib siedelt seinen neuen Roman "Letzter Wunsch" wieder einmal in der deutschen Kleinstadt Gigricht an, in dem verschlafenen "Gigritz-Patschen", Sinnbild der Provinz. Und dieser gastliche Ort ist nicht eben entgegenkommend individuellen Wünschen gegenüber.

Gabriel Salzinger begibt sich zur israelitischen Kultusgemeinde, wird gefilzt wie am Flughafen von Tel Aviv und zahlt einen Haufen Geld, um das Begräbnis seines Vaters in die Wege zu leiten. Die beschauliche Trauer um den lieben Verstorbenden wird aber samt dem Begräbnis jäh unterbrochen, der bereits leicht mit Erde bedeckte Sarg wieder an die Oberfläche gehoben.

Salzinger senior darf nicht am jüdischen Friedhof begraben werden. Denn nach orthodox jüdischem Verständnis sei er gar kein Jude gewesen, darauf ist eine Mitarbeiterin der Kultusgemeinde zufällig bei einer Archivrecherche gestoßen. Wenn die Nazis das ebenso gesehen hätten, dann wäre der Familie einiges erspart geblieben.

Das Motiv der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft durchzieht Vladimir Vertlibs Texte seit Jahren. Als Kind emigrierte der 1966 in St. Petersburg (damals Leningrad) geborene Autor mit seiner Familie nach Israel, später nach Österreich, dann wieder nach Israel, weiter in die USA und 1981 schließlich wieder zurück nach Österreich, wo er seither lebt. Seine literarischen Texte verfasst er in deutscher Sprache.

Die Frage "Wer ist Jude?", die bereits in Vertlibs letztem Roman "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" Rosa Masur dazu bewog, ein in den vierziger Jahren verloren gegangenes Dokument, das ihre jüdische Herkunft bestätigt, 60 Jahre später "nachmachen" (= fälschen) zu lassen, bestimmt nun in "Letzter Wunsch" programmatisch auch die letzten Dinge.

Vertlib zeigt die Auswüchse eines religiösen Dogmatismus, dem Menschlichkeit weniger wert ist als die Einhaltung festgeschriebener Regeln. Und dass jener keineswegs auf das Judentum beschränkt sei, legt er einer katholischen Anruferin in den Mund, die sich im Radio zu Wort meldet, als Gabriel sich mit seinem Anliegen an die Öffentlichkeit wendet: "Glauben Sie mir, die Pfaffen sind alle gleich, ob christlich, jüdisch, mohammedanisch oder von einer anderen Religion. Nehmen Sie alles nicht so tragisch." - Auch eine Deutung von Lessings Ring-Parabel.

Gabriel versucht trotzdem verbissen, für seinen Vater das Recht auf einen Grabplatz am jüdischen Friedhof zu erkämpfen, zumal Salzinger senior sich diesen bereits zu Lebzeiten reservieren ließ. Und dabei leistet er Trauerarbeit auf seine Weise, raucht unzählige letzte Zigaretten und versinkt in einer Flut an Erinnerungen.

Die Großmutter mütterlicherseits war tatsächlich Christin, konvertierte aber im Dritten Reich zum Judentum "um ein Zeichen zu setzen" und in der (vergeblichen) Hoffnung, in der Familie ihres Mannes auf mehr Akzeptanz zu stoßen. Doch hatte sie dummerweise bei ihrem Religionswechsel einen Reformrabbiner erwischt - und somit galt ihr Übertritt zum jüdischen Glauben aus heutiger (orthodoxer) Sicht als ungültig.

"Letzter Wunsch" ist eine Auseinandersetzung mit Zwängen aller Art. So laboriert der IchErzähler an einer Nikotin-Sucht, die er sich nicht und nicht abgewöhnen kann. Zu den letzten Dingen zählen die letzten Zigaretten ebenso wie die persönliche Vergangenheitsbewältigung, die er mit jener seiner Familie verknüpft.

Opfer- und Täterrollen wechseln einander ab, wenn der Vater sich nicht nur an den Holocaust erinnert, sondern auch an Morde an Palästinensern. Gabriel hat beides nicht erlebt und ist doch gezwungen, sich seine Version der Geschichte zurecht zu legen, allein schon, um sich zu rechtfertigen. Juden gegenüber deshalb, weil er in Deutschland lebt - das sei kein Land für Juden, nach allem, was geschehen ist. Und vielen anderen gegenüber für die Politik Scharons.

LETZTER WUNSCH

Roman von Vladimir Vertlib

Deuticke Verlag, Wien 2003

389 Seiten, geb., e 22,90

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