Die Potenzpille ist in aller Munde

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Mit Viagra wurde ein wirksames Mittel gegen Impotenz entdeckt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Potenzpille sind allerdings noch unklar.

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Mit Viagra wurde ein wirksames Mittel gegen Impotenz entdeckt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Potenzpille sind allerdings noch unklar.

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Ein phantastisches Medikament" (Bob Dole, ehemaliger republikanischer Oppositionsführer im US-Senat), "Die Pille macht aus Männern wahre Sex-Maschinen" (der ehemalige Präsidentschaftskandidat Richard Lugner nach einem von "News" angezettelten Test), "Fixierung auf dumpfes Rein-Raus" (Feministinnen-Urgestein Alice Schwarzer): Die Potenzpille Viagra ist - zumindest im übertragenen Sinn - in aller Munde. Sogar der Vatikan hat grünes Licht für die blaue Pille gegeben: Sie sei ein erlaubtes Hilfsmittel, sofern sie innerhalb der Ehe angewendet werde, verkündete der Römische Moraltheologe Gino Concetti, der regelmäßig für die Vatikan-Zeitung "L'Osservatore Romano" schreibt.

Daß Viagra unter Vertretern des vermeintlich starken Geschlechts Stürme von Euphorie auslöst, liegt auf der Hand: 52 Prozent aller Männer zwischen 40 und 70 haben Erfahrung mit Impotenz, bei den über 70jährigen sind es zwei Drittel. Jeder zwanzigste Mann zwischen 40 und 70 bringt überhaupt keine Erektion zustande (erektile Dysfunktion), bei den über 70jährigen sind es gar15 Prozent. Viagra wirkt auch bei Patienten, bei denen sich seit Jahren nichts mehr regte - und ist daher auf dem besten Weg, das wirtschaftlich erfolgreichste Medikament aller Zeiten zu werden: In den USA haben bereits über eine Million Männer Gebrauch von der Wunderpille gemacht; täglich werden dort 10.000 neue Rezepte ausgestellt. In Österreich wird das Medikament voraussichtlich im Herbst dieses Jahres offiziell eingeführt.

Fluch oder Segen?

Noch weiß niemand, wie sich der Viagra-Boom auf die Gesellschaft auswirken wird. Ein aktives Sexualleben bis ins hohe Alter kann nämlich nicht nur erfüllend, sondern auch belastend sein: "Viele Ehepaare haben bisher die Sexualität mit rund 40 Jahren einvernehmlich eingestellt", erklärt der Wiener Psychotherapeut Heinz Laubreuter. Bringt die Potenzpille nun neuen Schwung in alte Ehen, oder zerbrechen harmonische Bindungen an der Wiedererstehung längst totgeglaubter Glieder? Weicht in den Schlafzimmern die Zärtlichkeit purem Leistungssex? Wird die Anzahl von Sexualstraftaten zunehmen? Wird es zu massivem Mißbrauch der Potenzpille kommen? Die Diskussionen sind in vollem Gange. "Viagra wird die Gesellschaft verändern" prophezeit jedenfalls der Hamburger Urologe Hartmut Porst im "Spiegel".

Für den Hersteller, das US-Pharmaunternehmen Pfizer, erweist sich Viagra als wahre Goldgrube. Der Kurs der Pfizer-Aktien stieg an der New Yorker Börse innerhalb der letzten zwölf Monate um 163 Prozent; von dem Höhenflug profitiert auch die anglikanische Kirche Englands, die laut "Kathpress" Pfizer-Aktien im Wert von umgerechnet rund 20 Millionen Schilling hält. Dabei wurde der Effekt des Viagra-Wirkstoffes Sildenafil nur durch Zufall entdeckt, als Pfizer ein neues Herzmedikament testete. Die erhoffte Wirkung blieb aus, doch die Probanden schwärmten von einer ungeahnten Potenzsteigerung. Nach Testende weigerten sich manche, übriggebliebene Tabletten zurückzugeben, einer brach sogar im Pfizer-Labor ein, um sich Nachschub zu holen.

Die Entwicklung derartiger Energien, um an Viagra zu kommen, würden Psychotherapeuten für vergeudet halten: "95 Prozent der Potenzstörungen sind psychischen Ursprungs", behauptet Jutta Fiegl, Vorsitzende des Wiener Landesverbands für Psychotherapie. Als mögliche Ursachen nennt sie unter anderem berufsbedingten Streß, krampfhaften Kinderwunsch oder Beziehungsstörungen.

"Höchstens 25 Prozent der Fälle von erektiler Dysfunktion sind psychisch bedingt", widerspricht der Urologe Mons Fischer, Oberarzt am Wiener Wilhelminenspital. In den achtziger Jahren nämlich kamen die ersten wirkungsvollen medikamentösen Erektionskrücken auf den Markt: Substanzen, die - direkt in die Schwellkörper des Penis injiziert oder mittels Katheter in die Harnröhre eingeführt - neues Leben in müde Glieder brachten. Bei den Patienten erfreuten sich diese Mittel verständlicherweise zwar keiner großen Beliebtheit, aber die Mediziner kamen so den verschiedenen körperlichen Ursachen der Impotenz auf die Spur: Mangelhafte Blutzufuhr zu den Schwellkörpern im Penis (40 Prozent), fehlerhafter Blutabfluß aus den Schwellkörpern (40 Prozent), neurologische Störungen (30 Prozent) und Mischformen (daher die Summe von 110 Prozent).

Tatsache jedenfalls ist: Eine Dosis von 100 Milligramm Sildenafil führt bei von Impotenz geplagten Männern mit einer Wahrscheinlichkeit von - ausgerechnet - 69 Prozent zum Erfolg. Das wird durch eine jüngst im "New England Journal of Medicine" veröffentlichte Studie belegt. "Die Zahl der erfolgreichen Versuche pro Monat erreichte 5,9 unter den Sildenafil- und 1,5 bei den Placebo-Empfängern", berichteten Irwin Goldstein von der urologischen Universitätsklinik in Boston und seine Mitautoren.

Viagra wirkt auf verschlungenem Wege: Im Penis befinden sich Schwellkörper, die von Arterien mit Blut versorgt werden. Die Blutzufuhr wird von ringförmigen Muskeln in den Arterienwänden reguliert. Im nicht erigierten Zustand sind diese angespannt und schnüren die Arterien ein. Im erigierten Zustand lockern sich die Muskelringe und die Arterien weiten sich. Blut schießt in den Schwellkörper und staut sich dort: Der Penis wird steif. Ausgelöst wird eine Erektion, wenn das Hirn sexuelle Erregung meldet. Dann wird der Botenstoff cGMP produziert, der den Muskelzellen den Befehl zur Entspannung gibt. Diesem Prozeß jedoch wirkt das Enzym Phosphodiesterase-5 entgegen: Es spaltet das cGMP. Wird mehr cGMP aufgespalten als produziert, kommt es nicht zur Erektion. Der Viagra-Wirkstoff Sildenafil nun blockiert dieses Spaltenzym. So reicht eine geringe Menge von cGMP aus, damit sich die Muskelringe in den Arterien entspannen. Doch ohne sexuelle Stimulation läuft gar nichts: Bleibt sie aus, wird gar kein cGMP produziert und das Glied bleibt schlaff.

Da verschiedene Phosphodiesterase-Varianten im ganzen Körper Dienst tun, bleibt die Wirkung von Viagra nicht auf den Genitalbereich beschränkt: Das Sildenafil erweitert die Arterien an allen möglichen Orten des Körpers, wodurch der Blutdruck sinkt. Bei einem Zehntel der Viagra-Anwender kommt es daher zu Kopfschmerzen, bei drei Prozent zu Sehstörungen. Die blutdrucksenkende Wirkung von Viagra kann bei Herzpatienten tödlich enden: Diese nämlich werden mit nitrathältigen Medikamenten behandelt, die ebenfalls den Blutdruck senken. Wirken Viagra und diese Medikamente zusammen, kann der Blutdruck so stark abfallen, daß das Herz aus dem Takt gerät - mit möglicherweise tödlichen Konsequenzen. Herzkranke müssen daher auf Viagra verzichten.

Tödliche Anstrengung In den USA sind schon sechs Menschen an Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben, kurz nachdem sie Viagra eingenommen hatten. Allerdings liegt der Verdacht nahe, daß sie nicht an irgendwelchen Nebenwirkungen des Medikaments zugrundegegangen sind, sondern den ungewohnten Anstrengungen sexueller Wiederbetätigung erlagen. Urologe Porst etwa befürchtet eine dramatische Zunahme von Mors in coitu, wie der plötzliche Tod im Beischlaf genannt wird. "Ich habe sogar mit einer zehnmal höheren Zahl (von Mors in coitu, Anm. d. Red.) gerechnet", vertraute Porst der "Süddeutschen Zeitung" an.

Laut einer zwei Jahre alten amerikanischen Studie hatten drei Prozent von 1.800 Infarkt-Überlebenden in den zwei Stunden vor dem Herzanfall Sex gehabt. Aber dieser Zahl ist wohl nicht zu trauen: Denn Sex im Alter ist noch immer ein Tabu-Thema; und welcher Mann fürchtet nicht Spott und Hohn, wenn bekannt wird, daß ihn sein Herz in Erfüllung seiner ehelichen Pflichten - oder gar außerehelichen Neigungen - im Stich gelassen hat? Stirbt ein älterer Herr auf eher unfriedliche Weise im Bett, haben auch die Hinterbliebenen wenig Interesse, daß sich die Wahrheit herumspricht; wer will schließlich, daß der geliebte und geachtete Großvater als Lustgreis, der bis zum bitteren Ende nicht genug bekommen konnte, in die Familienannalen eingeht? Mons Fischer: "Mors in coitu kommt in den seltensten Fällen ans Tageslicht."

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