Die Pranke des jungen Löwen

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Das neue Buch von Daniel Kehlmann enthält zwei sehr gute Erzählungen sowie vier, die hoffentlich Jugendsünden sind.

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Das neue Buch von Daniel Kehlmann enthält zwei sehr gute Erzählungen sowie vier, die hoffentlich Jugendsünden sind.

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Offenbar zieht man heute bereits Zweiundzwanzigjährigen ungeduldig aus der Lade, was prädestiniert wäre, dereinst aus ihrem Nachlaß geborgen und von der Nachwelt mit Rührung zur Kenntnis genommen zu werden. Kritiker wie Leser staunten: Mit dem Roman "Beerholms Vorstellung" katapultierte sich der - jetzt! - 22 Jahre alte Daniel Kehlmann im vorigen Jahr mitten hinein in den Literaturbetrieb. Nun schiebt der Deuticke-Verlag einen Band mit sechs zum Teil sehr kurzen Erzählungen nach. Leider erfährt man nicht, welche Geschichte wann entstanden ist. Bei einem so jungen Senkrechtstarter wäre aber gerade das wichtig, um seine Entwicklung beurteilen und sein erzählerisches Potential abschätzen zu können.

Der Rezensent kann daher nur hoffen, daß "Schnee" die älteste dieser Geschichten und "Unter der Sonne", oder "Bankraub", die neueste ist. Wäre es umgekehrt, wäre "Schnee" - oder "Auflösung" - jüngst entstanden, könnte man nur von einem schweren Rückfall in die literarische Pubertät sprechen.

Nicht, daß es irgendeinem dieser Texte, auch nur einem, an der technischen Perfektion fehlen würde. Daniel Kehlmann ist ein hochbegabter Erzähler, ein sicherer Stilist, ein junger Mann im Vollbesitz seiner teilweise noch etwas konventionellen Mittel, was aber überhaupt nichts ausmacht, denn alles andere kommt später. Diese frühe Perfektion bedeutet aber auch eine Gefahr. Über weite Strecken hat diese Prosa noch den wohlbekannten allzu glatten Klang eines sehr jungen Pianisten oder Geigers, der noch nicht genug erlebt hat. Zwar ist - falls die angenommene Reihenfolge einigermaßen stimmt - auch ein erzählerischer Fortschritt festzustellen, doch viel schwerer wiegt das Inhaltliche. Wiegt, was der Autor zu sagen oder eben im Moment noch nicht zu sagen hat.

In "Schnee", ausgerechnet jener Geschichte, die den Band abschließt, ist die Diskrepanz am größten. Der arme Direktor Lessing! Die Exposition hinter sich bringend, dürften die meisten Leser, in Anbetracht des draußen herrschenden Wetters, wohl auf einen alsbaldigen Herzinfarkt im Auto oder Erfrierungstod nach einem Kreislaufkollaps mit nachfolgendem Motor- und Heizungsausfall tippen. Doch der Ärmste! Er erfriert, nachdem er das steckengeliebene Auto verlassen und die Straßenbahn erreicht hat, aber irrtümlicherweise wieder ausgestiegen ist. Wobei die nicht ganz neue Pointe darin besteht, daß der Unglückliche gar kein Unglücklicher ist, denn: "Er war noch nie so glücklich gewesen." Kunststück. Er war ja auch ein Manager.

Falls Daniel Kehlmann höchstens 19 war, als er das schrieb, ist alles entschuldigt. Das gilt auch für "Auflösung", die wohl überaus symbolisch gemeinte Geschichte eines Menschen, der, ein Gerät bedienend, selbst zum Gerät wird, schließlich die Welt nicht mehr wahrnimmt und in der Anstalt stirbt: Die Sprache ist perfekt, die Botschaft Klischee - eine Jugendsünde, vergessen und vergeben.

Zwei weitere Erzählungen befassen sich mit dem Bösen. Die eine ("Töten") handelt von der sinnlosen, aber offenbar befreienden Mordtat eines Halbwüchsigen, der auf raffiniert geplante Weise einen schweren Autounfall herbeiführt und zum Drüberstreuen auch noch Nachbars Hund vergiftet. Möglicherweise haben im Kopf des Autors Camus und Freud ein bißchen miteinander gerungen, dann aber ermattet voneinander abgelassen, als er den Täter "den kalten Glanz um sich, eine Art Heiligkeit" fühlen ließ. Die zweite dieser Geschichten ist das Bekenntnis eines Pyromanen. Hier hat Camus, offenbar war er schon müde, Freud in Ruhe gelassen, doch auch Freud wollte nicht so recht. Wir erfahren, in welchen Empfindungen Pyr sich suhlt, wenn er Brände legt, aber mehr gibt er nicht preis. Beide Geschichten wirken wie Geläufigkeitsübungen im schwarzen Metier, die zwar beim Lesen Unbehagen auslösen, aber abgesehen davon nicht besonders bemerkenswert sind.

Der ganze Band könnte also als Jugendsünde abgehakt werden - wären da nicht die Erzählungen "Bankraub" und "Unter der Sonne". Diese zwei Geschichten lassen die Möglichkeiten Daniel Kehlmanns erahnen und lohnen, jede auf ihre Weise, das Lesen des schmalen Buchs. Im "Bankraub" wird eine nicht neue Situation - ein armer Wicht kommt durch einen Buchungsfehler zu riesig viel Geld - auf frische, neue Weise erzählt: Mit viel psychologischem Geschick und dabei auf eine Weise spannend, die, obwohl der Ausgang des Abenteuers offen bleibt, den neugierigen Leser nicht im Regen stehen läßt. In diesen beiden Erzählungen, nur in ihnen, funkelt auch ein zurückhaltender, hintergründiger, sympathischer Witz.

Diese beiden Geschichten, aber auch nur sie, machen neugierig auf mehr von Daniel Kehlmann. "Unter der Sonne" ist überhaupt ein kleines Bravourstück. Der aufstrebende Uni-Assistent Kramer nützt eine Tagungspause in Paris, um nach Südfrankreich zu fahren und das in keinem Bildarchiv auffindbare Foto vom Grab des von ihm bewunderten großen Autors Bonvard zu machen. Wie da die Vorgeschichte der Reise und die komische Fotografieraktion ineinander verwoben werden, wie die Figur ironisiert, dabei aber doch ernst genommen wird, wie da der Erzähler den grauen universitären Institutsalltag unter der mediterranen Sonne noch grauer erscheinen läßt, das verrät ganz unverkennbar die Pranke eines hochbegabten Erzählers. "Unter der Sonne" hätte ruhig länger sein dürfen, konnte aber um keinen Satz länger sein, und dies wiederum spricht für ein frühes Proportions- und Formgefühl.

Hoffentlich sind die vier Jugendsünden wirklich solche. Wenn dem so ist, wären sie besser in der Lade geblieben, bis genug Material für einen Erzählband vorliegt, dessen Niveau insgesamt dem der beiden besten Geschichten, "Unter der Sonne" und "Bankraub", entspricht.

Unter der Sonne Von Daniel Kehlmann. Deuticke Verlag, Wien 1998, 112 Seiten, geb., öS 148,

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