Die Retro-Avantgardisten

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Das slowenische Künstlerkollektiv IRWIN, inspiriert von „Übervater“ Marcel Duchamp, begann vor gut zwei Jahrzehnten, die Möglichkeiten der Kunst vor dem Hintergrund der Geschichte des Landes auszuloten und den geschichtlichen Prozess zu reflektieren.

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, es ist Zeit für Rückblenden. Da kann man schon einmal etwas weiter ausholen und zum Beispiel mit den Juliereignissen aus dem Jahr 1921 ansetzen. Damals überarbeitete nämlich Marcel Duchamp eine Reproduktion von Leonardo da Vincis Mona Lisa mit einem Schnauzbart, und um diese Maskulinisierung der Kunst wiedergutzumachen, verkleidete er sich im Gegenzug mit Frauenkleidern. Sein fotografierender Künstlerfreund Man Ray bannte ihn auf Zelluloid, als Titel fand Duchamp „Rrose Sélavy“ als angebracht. Sieht man von der verwackelten Orthographie ab und lässt sich nur von den Lauten der Buchstabenfolge leiten, ergibt sich daraus für die deutsche Übersetzung die knappe Feststellung: „Eros ist das Leben.“

Die gesamte künstlerische Strategie von Marcel Duchamp zielte darauf ab, mit allen herkömmlichen Gewohnheiten, die Kunstwerke von üblichen menschlichen Hervorbringungen abgrenzen, gründlich aufzuräumen. Die mittlerweile aufgezeigten Verbindungslinien von Arbeiten oder Werkgruppen von Duchamp zu jenen einiger nachfolgender Kunstschaffenden füllten mehrere kunstwissenschaftliche Bände. Warum ausgerechnet die Bezugnahme auf diese Fotografie des exaltiert posierenden Duchamp auf der Fotografie mit dem Titel „Rrose Sélavy“? Der Grund dafür ist in Slowenien zu suchen.

Versatzstücke aus der Geschichte

Vor mehr als zwei Jahrzehnten entschlossen sich nämlich fünf aufstrebende Künstler, sich zu einer Gruppe zusammenzuschließen, und nannten diese zunächst in direkter Anknüpfung an Duchamp „Rrose Irwin Selavy“. Später schrumpfte der Name auf „R Irwin S“, um sich schließlich zumindest namentlich vom Übervater zu verabschieden und als „IRWIN“ die Möglichkeiten der Kunst in einem Umfeld, wie es die Geschichte von Slowenien bietet, auszuloten.

Ein markanter Ansatzpunkt dafür war die Ausstellung „Was ist Kunst?“ aus dem Jahr 1985. Zunächst eine unspektakuläre Schau, konventionelle Motive, konventionelle Techniken – in der Zusammenstellung allerdings radikal. Versatzstücke aus der Geschichte der Kunst Sloweniens, aus dem Sozialistischen Realismus und den Aufbruchsbewegungen der 60er Jahre finden sich hier zusammencollagiert und zusammenmontiert, garniert mit dazwischen angebrachten Geweihtrophäen und ausgestopften Vögeln. Damit begann jenes Projekt, das Peter Weibel dann zu Beginn der 90er Jahre unter dem Titel „Retroavantgarde“ zusammenfasste. In einem Arbeitspapier von IRWIN heißt es zu dieser Avantgarde im Retroblick: „Die Rückkehr zur ‚bürgerlichen Kultur‘ und zu ihrer üblichen formalen Umsetzung – Staffeleimalerei (Öl, Leinwand und Keilrahmen) – ermöglicht uns eine Bezugnahme auf den Markt und bringt jene Schärfe mit sich, die man für die Ikonografie neuer Malerei, die hier durch ihre Form verwirklicht ist, benötigt. Das ist das Retro-Prinzip: als eine ordnende Matrix, als Rahmen für eine operationale Vorgangsweise, und nicht als ein Stil; das Retro-Prinzip als ein Mittel der Analyse der historischen Erfahrungen der bildenden Künste in Slowenien.“ Die von IRWIN präsentierten Werke zielen also nicht in erster Linie auf die ihnen eigenen Möglichkeiten wie Komposition und dergleichen, sondern auf den geschichtlichen Prozess, als deren Produkt sie nun ansichtig werden.

Die Gruppe IRWIN arbeitet als Kollektiv, was mehr bedeutet als bloß die Summe aus fünf Individuen. Die Quintessenz der Gruppe schwebt immer wie eine Feder zwischen den Mitgliedern, die sich dann und wann auf ein Trägermaterial senkt und die Spuren dieses Kollektivs zur Schau stellt. Die Entscheidung zu dieser Form der Zusammenarbeit erinnert aber auch an das praktizierte sozialistische Wirtschaftssystem, an Kooperativen und Kolchosen. Die Geschichte spinnt sich so einerseits weiter, gleitet aber keineswegs in einen romantisch-verklärenden Retro-Blick ab. Gerade dass die Ausstellungen von IRWIN zu einem nicht unerheblichen Teil in Privatwohnungen stattgefunden haben, ist auch ein Moment jener Geschichte sozialistischer Herrschaft, in der Kunst nur im Privaten, nur indem sie sich aus dem System zurückzog, überleben konnte.

Daher übernehmen IRWIN auch in Form einer Reaktivierung Linolschnitte von Janez Knez, die dieser in den 50er Jahren auf mit Schweineblut imprägniertem Papier gedruckt hatte, und sprechen von einem „Roten Distrikt“, der zwischen der Farbe und Blut changiert. Und sie übernahmen die Vergrößerungstechnik, derer sich bereits Knez bedient hatte, und legten auf dem Roten Platz in Moskau ein schwarzes Stoffquadrat mit der Kantenlänge von 22 Metern als Hommage an einen anderen Übervater der Klassischen Moderne, an Kasimir Malewitsch, aus. Und abermals springen die Bedeutungen zwischen dem Rot und dem Schwarz hin und her.

Soldaten mit Malewitsch-Kreuzen

In ihrem Projekt NSK wurde die Kunst überhaupt staatstragend. NSK, das für „Neue Slowenische Kunst“ steht, bezeichnet ein fiktives Staatsgebilde, einen Kunst-Staat eben, der zwar mit keinem eigenen Territorium aufwarten kann, dafür aber mit einer eigens designten Flagge, es gibt Reisepässe, und temporär sind auch in Privatwohnungen und Hotelzimmern irgendwo im Ausland offizielle Botschaften untergebracht. So verwies im Mai und Juni 1992 eine Tafel beim Eingang zum Lenin Prospekt Nummer 12, Apartment 24 auf eine derartige Vertretung von NSK in Moskau. IRWIN hisst aber auch die tatsächlich existierende Kunst-Flagge dieses imaginären Staates und lässt sie von Soldaten regulärer Armeen bewachen. Diese tragen ihre vorgesehenen Uniformen, bloß ihre Armbinden geben einen weiteren verstörenden Hinweis. Denn was zunächst wie als Ausweis der Zugehörigkeit zum Roten Kreuz erscheint, entpuppt sich abermals als retro-avantgardistischer Einsatz des roten Kreuzes von Gemälden von Kasimir Malewitsch. Die Soldaten der albanischen, der tschechischen, der kroatischen, der italienischen, der österreichischen und der kirgisischen Armee haben ihren Dienst zur vollen Zufriedenheit von IRWIN geleistet, wie die dokumentarischen Fotoarbeiten dazu belegen. Der Anfang zu einem neuen Koordinatensystem für diverse Beziehungen ist damit gesetzt.

Teil 7 der FURCHE-Serie „Kunst in Kontakt“ – in Zusammenarbeit mit der Erste Bank

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