Die sanfte Kastration

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Es verdichten sich die Hinweise darauf, daß die Umweltbelastung mit Chemikalien zu immer deutlicher registrierbaren Störungen des Hormonsystems der Lebewesen führt. Eine Verweiblichung zeichnet sich ab.

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Es verdichten sich die Hinweise darauf, daß die Umweltbelastung mit Chemikalien zu immer deutlicher registrierbaren Störungen des Hormonsystems der Lebewesen führt. Eine Verweiblichung zeichnet sich ab.

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Das boomende Geschäft der Kliniken, die sich der künstlichen Befruchtung verschrieben haben, ist auf eine Entwicklung zurückzuführen, die eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdienen würde: die steigende Zahl der unfruchtbaren Paare. Auf etwa 20 Prozent wird ihr Anteil geschätzt. Dieses Faktum ist nicht nur auf die nachteiligen Folgen der häufiger werdenden Geschlechtskrankheiten, sondern auch auf die abnehmende männliche Fruchtbarkeit zurückzuführen. Im "British Medical Journal" veröffentlichte Untersuchungen weisen darauf hin, daß die Spermienzahl in der Samenflüssigkeit seit Jahrzehnten rückläufig ist: Von 120 Millionen je Milliliter (1940) auf 66 Millionen (1990). Immer häufiger muß man Knaben und Männer behandeln, deren Geschlechtsorgane unterentwickelt, fehlgebildet oder unfähig sind, eine für die Fortpflanzung ausreichende Zahl von Spermien zu produzieren.

Außerdem zeigen epidemiologische Untersuchungen, daß eine Zunahme bestimmter Fehlentwicklungen an den für die Reproduktion wichtigen Organen festzustellen ist: häufigerer Hodenhochstand, häufigere Hypospadie (Harnröhren Fehlbildung), häufigerer Hodenkrebs schon bei jungen Männern und steigende Zahlen beim weiblichen Brustkrebs.

Störungen und Fehlbildungen aber nicht nur beim Fortpflanzungssystem des Menschen. Auch bei wildlebenden Tierarten gibt es alarmierende Beobachtungen: "Reproduktionsstörungen und Störungen des Immun- und Nervensystems (Verhalten) nehmen bei marinen Säugern, bei Reptilien und Vögeln in besorgniserregendem Maße zu. Bei einem weiten Spektrum von Lebewesen, vom Zooplankton über Seesterne, Muscheln, Schnecken, Amphibien und Reptilien, Vögel und Säugetiere bis zum Menschen werden Reproduktionsstörungen mit Schadstoffbelastungen in Verbindung gebracht," fassen Margaret Schlumpf und Walter Lichtensteiger vom Institut für Pharmakologie der Universität Zürich den Stand der Dinge zusammen (Magazin d. Universität 3/96).

Bisher hatte man bei der Beurteilung der Umweltverträglichkeit von Chemikalien das Hauptaugenmerk darauf gelegt, ob sie tödliche, krebserregende oder Mißbildungen hervorrufende Wirkungen haben. Nunmehr aber stellt sich immer deutlicher heraus, daß diese Stoffe nicht so sehr zu akuten Vergiftungen führen, sondern sich langfristig auf das Hormon- und damit auf das Reproduktionssystem auswirken können.

Zwei Eigenschaften vieler chemischen Substanzen sind es, die für diesen Umstand verantwortlich sind: ihre Beständigkeit und ihre Fettlöslichkeit. Diese Kombination bewirkt eine Anreicherung der Stoffe in den Fettgeweben von Lebewesen. Über die Nahrungskette werden sie "weitergereicht" und produzieren zuletzt eine besonders hoher Schadstoff-Konzentration beim Menschen (im Tierreich sind insbesondere die Meeressäuger und die Raubvögel betroffen).

Nachweisen läßt sich dieser hohe Grad an Anreicherung insbesondere in der Muttermilch. Untersuchungen zeigen, daß deren Belastung bei jenen Pestiziden, die seit längerem in den meisten Industrieländern verboten sind, tendenziell abnimmt, aber immer noch sehr hoch ist. In neueren Proben zu Beginn der neunziger Jahre hat man in Deutschland und in der Schweiz eine Belastung mit neuen Fremdstoffen festgestellt. Es handelt sich um Parfumbestandteile, die in Wasch-, Reinigungs und Schönheitsmitteln Verwendung finden: Polynitro- und Nitromoschusverbindungen. 1994 aus den Waschmitteln zurückgezogen, sank ihr Gehalt auch wieder in der Muttermilch. Angestiegen ist dort hingegen das Niveau der seither eingesetzten Ersatzstoffe.

Einfluß auf die Gehirnentwicklung Im Organismus eingelagert können verschiedene dieser Stoffe mit den Hormonsystemen in Wechselwirkung treten, entweder indem sie selbst wie Hormone wirken oder indem sie auf die Hormone und deren Bildung Einfluß nehmen. "Chemikalien können aber auch die Aktivität von stoffwechselaktiven metabolisierenden Enzymen verändern, was zu veränderten Hormonspiegeln in kritischen Phasen der Entwicklung führen kann." (Schlumpf & Lichtensteiger) Und dieser Tatsache kommt besondere Bedeutung zu.

Die Sexualhormone haben nämlich unterschiedliche Funktionen. Einerseits steuern sie bestimmte Vorgänge im Körper, etwa das Fortpflanzungs- und Brutpflegeverhalten. Andererseits haben sie im Entwicklungsprozeß der Lebewesen in bestimmten Phasen "organisierende" Wirkungen. Das bedeutet, daß sie in gewisser Weise die Entwicklung von Organen, insbesondere der Genitalorgane oder des Gehirns lenken. In diesen Bereichen kommt es in Abhängigkeit von der Konstellation der Sexualhormone entweder zu einer männlichen oder weiblichen Prägung, ein Vorgang, der nach seinem Abschluß unumkehrbar ist. Auf ihn wirken die Schadstoffe, deren Liste lang ist (sie reicht von Lindanen über Schwermetalle bis zu Dioxinen). Die Zeitschrift "Environmental Health" listet Substanzen mit Wirkungen auf das Fortpflanzungssystem auf.

Damit es zu einer männlichen Prägung kommt, bedarf es einer eindeutigen Dominanz der männlichen Sexualhormone. Viele, wenn auch nicht alle Schadstoffe wirken aber eher in Richtung Verweiblichung, wie unter anderen auch eine österreichische Forschergruppe, die das Gesangverhalten von Singvögeln in Seewiesen untersucht, herausgefunden hat. "Wir können zeigen, daß einige dieser Chemikalien beim Vogel die Wirkung von Östrogenen haben und sich in großen Mengen im Gehirn einlagern," fassen sie den derzeitigen Stand ihres Wissens zusammen (http://ss20.mpi-seewiesen.mpg.de/ gahdeu.html).

Auf das Hormonsystem wirken jedoch nicht nur die erwähnten Schadstoffe, sondern vor allem auch die sich in der Umwelt anreichernden weiblichen Sexualhormone. Die weltweit seit Jahrzehnten zigmillionenfach erfolgte Verabreichung von empfängnisverhütenden und die Wechselbeschwerden mildernden Produkte sind nicht spurlos an der Umwelt vorübergegangen.

Ein Forscherteam der Universität Uxbridge in England hat Süßwasserfische in Abwasserkläranlagen ausgesetzt. In manchen sind die Tiere sofort eingegangen, in anderen haben männliche und unreife weibliche Fische Vitellogenin (eine Vorstufe des Eidotters) zu produzieren begonnen. Diese Erscheinung ist Ergebnis einer Feminisierung, die mit dem hohen Gehalt an Stoffwechselprodukten der empfängnisverhütenden Pillen in Beziehung gebracht wurde.

Der Leiter der Gruppe, John Sumpter dazu: "Die Exposition gegenüber Östrogenen kann im ganzen Tierreich die Fortpflanzung auf allen Stufen stören, vom Gehirn bis zu den Eierstöcken."

Ein einziger, großer Alptraum Welch hohe Werte diese Konzentration erreichen kann, zeigte eine Untersuchung der Wiener Universitätsfrauenklinik, die 1995 vorgestellt wurde. Sie fand im Wiener Abwasser morgens und vormittags eine Konzentration von 25 Picogramm Ethinylöstradioal (ein Östrogen der Antibabypille) pro Milliliter. Um diese Zahl bewerten zu können, muß man wissen, daß der Östrogen-Hormonspiegel der Frau zwischen 50 bis 200 Picogramm liegt. Univ. Prof. Johannes Huber von der Wiener Frauenklinik sprach im Hinblick auf diese Ergebnisse von der Tatsache, "daß wir in Westeuropa in einem Ozean von Östrogenen schwimmen."

Nun trinkt wohl niemand Abwasser. Weil aber einiges dafür spricht, daß diese künstlichen Östrogene kaum oder nur sehr langsam abgebaut werden, ist mit ihrer Anreicherung in den Lebewesen zu rechnen. Und sie geht, wie einleitend beschrieben, offensichtlich nicht spurlos an ihnen vorbei.

Es gibt also viele Anzeichen dafür, daß die chemische Belastung der Umwelt sich auf den Hormonhaushalt der Lebewesen auswirkt und dazu beiträgt, daß sich eine Feminisierung, eine "sanfte Kastration" (wie es die Zeitschrift "Medizin&Ideologie" nannte) und damit eine abnehmende Fruchtbarkeit der Arten - der Mensch scheint von dieser Entwicklung nicht ausgenommen zu sein - abzeichnet.

Offenkundig wird auch, wie vielfältig und schwer zu erfassen die Auswirkungen unserer massiven Eingriffe in die Umwelt sind. Und vor allem: Sie werden in ihrer Tragweite oft erst nach Jahrzehnten ihres Vorhandenseins erkannt. Durch die wachsende Vielfalt der Eingriffe ist es außerdem meist recht schwierig, die Zusammenhänge eindeutig nachzuweisen. Dazu bedarf es oft aufwendiger Forschung, die sich über Jahre erstreckt, bis sie hieb- und stichfeste Belege zusammengetragen hat.

John Sumpter, der eine vielfältige Bedrohung durch Östrogene vermutet, meint, sie könne sich als "einziger großer Alptraum erweisen ... Aber wir benötigen 50 Jahre Forschung, um dies herauszufinden."

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