Die Schneckenfrau im Schneckenhaus

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Auf der üppigen Tropeninsel Paradise im Roman "Die Nacht der blühenden Kakteen" von Shami Mootoo wünscht sich jeder, jemand anderer zu sein.

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Auf der üppigen Tropeninsel Paradise im Roman "Die Nacht der blühenden Kakteen" von Shami Mootoo wünscht sich jeder, jemand anderer zu sein.

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Shani Mootoo ist indischer Abstammung, wurde in Irland geboren und verbrachte ihre Kindheit in Trinidad. In ihrem Erstlingsroman erweckt sie eine phantastische, pulsierende Insel und deren Bewohner zu einem Leben, das ebenso fasziniert wie erschreckt. Schönheit und Zerstörung, Liebe und Gewalt, Leidenschaft und Hoffnungslosigkeit liegen so nahe beieinander, daß sie für die meisten Menschen selbstverständlicher Bestandteil des Lebens geworden sind. Nur jene, die als Außenseiter ihr Anderssein schmerzlich erleben, bemühen sich um Gefühle, Verständnis und damit um Heilung alter Wunden.

Ein kleines Mädchen, Tochter des angesehenen christlichen Predigers, hat sich der Rettung der Schnecken verschrieben, die nach ausgiebigen Regenfällen von ihren Mitschülern genüßlich mit lautem Krachen auf dem Schulhof zertreten werden. In großen Säcken sammelt sie unermüdlich diese "heiligen Tiere", um auch von ihnen - wie ihr Tante Lavinia erklärt hat - einst, wenn nötig, beschützt zu werden. Fast ein Menschenleben später lebt das kleine Mädchen uralt, verwahrlost und verstummt noch immer auf der üppigen tropischen Insel namens Paradise. Als sie ins Altersheim eingeliefert wird, hält man sie für verrückt, doch einem sensiblen jungen Pfleger gelingt es, ihre Lebensgeister wieder zu wecken und ihre Lebensgeschichte zu rekonstruieren.

Ihn quält seine weibliche Seele, die nicht zu seinem männlichen Körper paßt, und so entwickelt er ein außergewöhnliches Sensorium für andere gequälte Seelen. In der mühsam rekonstruierten Lebensgeschichte der ihm anvertrauten alten Mala, hinter den Klatschgeschichten über die verrückte Alte, die allein in einem stinkenden, verwahrlosten Haus am Rand der Stadt lebte, findet er die Geschichte des schneckenrettenden kleinen Mädchens.

Ihr Vater Chandin war der erste Inder, der von missionarischen "Regenländern" wie ein eigener Sohn in ihre neugegründete Schule aufgenommen wurde. Eifrig nutzte er seine Chance, verachtete bald seine Herkunft und den Glauben seiner "primitiven" leiblichen Eltern und setzte alles daran, seiner Ziehschwester Lavinia zu gefallen, in die er sich unsterblich verliebte. Hart arbeitete er daran, sein Leben zu disziplinieren und ein erfolgreicher Prediger zu werden - doch seine große Liebe verschwindet zu Verwandten ins "Regenland". Als sie zurückkehrt, ist er mit ihrer indischen besten Freundin verheiratet und hat zwei Töchter. Tante Lavinia wird für die kleinen Mädchen zum Familienmitglied, auch wenn die Spannungen innerhalb des seltsamen Dreiecks steigen. Als sie mit der Mutter der Kinder flieht und diese in letzter Minute beim Vater zurückbleiben müssen, beginnt die Katastrophe. Aus Rache an seiner Frau, die ihn, wie einst Lavinia, verläßt, beginnt er seine Töchter zu mißbrauchen. Mala, die Ältere, lädt alle Verantwortung für die kleine Schwester und den Vater auf sich und zerbricht daran. Der Jüngeren gelingt die Flucht.

Shani Mootoo schildert dies alles aus der Sicht des Kindes, das von Ekel, Abscheu und ständiger Angst, aber gleichzeitig auch Mitleid mit dem Vater geprägt ist. Das Kind weiß bald, daß es nur überleben kann, wenn "sie sich vollkommen unter Kontrolle hatte. Wut, Haß und sogar Angst konnten leicht alles verderben. Als sie lockerer wurde, spürte sie den überwältigenden Zorn in ihren Adern." Auf nächtlichen Streifzügen durch die Häuser wohlhabender Leute übt sie das "perfekte Gleichgewicht zwischen starrer Wachsamkeit und gefährlicher Entspannung", das ihr überleben helfen soll. Gleichzeitig versucht sie in der Natur, mit der Beobachtung von Insekten, Pflanzen und dem Retten der heiligen Schnecken, ihrem Leben so etwas wie Normalität zu verleihen. In der kleinen Stadt wissen viele vom Schicksal des Mädchens, daß der Vater an der Flasche hängt und sich an seinem eigenen Kind vergeht. Doch niemand greift ein, im Gegenteil, sie nennen ihn weiterhin "Chandin Sir", und manche haben sogar Verständnis, weil ihn seine Frau doch verlassen hat. Schließlich war er einst ein angesehener Mann, der noch immer ein stattliches Haus bewohnt, in dem ein Kristalluster hängt, wie ihn sonst nur die Weißen haben.

Im Schulhof half Mala ein einziger Bub beim Schneckenretten, der dafür von seinen Kameraden immer verlacht wurde. Ihre Rettung gelingt ihm als erwachsenem Mann nicht. Zu übermächtig ist der Vater, der mit aller Gewalt seine Tochter für sich behalten will. Mala verliert den Verstand, der gewalttätige Vater sein Leben und der junge Mann flüchtet in eine normale Ehe und in lebenslange Müdigkeit, um sich damit nicht mehr zu konfrontieren. Zu schmerzlich empfindet er sein Versagen.

Über der gewalttätigen Geschichte, die sich wie ein Krimi nur Stück für Stück zusammensetzten läßt, liegt ein ganz zartes Gewebe emotionaler und psychologischer Beziehungsfäden, die von Tyler, dem jungen transsexuellen Pfleger, zu den wenigen noch lebenden Menschen aus Malas Vergangenheit gesponnen werden. So ermöglicht er ihr und ihnen einen späten, sanften und versöhnlichen - weil vernebelten - Lebensabend, in dem die Insekten, Kakteen, Vögel und Schnecken in den Vordergrund treten. Die Realität verblaßt, Mala "befreite sich fast völlig von allen Wörtern", und Tyler lernt einen jungen Mann kennen, der eigentlich ein Mädchen ist. Doch auf dieser Insel "wünscht sich fast jeder, was anderes oder wer anders zu sein", und die verrückte, Vogelstimmen imitierende Mala ermutigt ihn wortlos, zu seinem Frausein zu stehen. Was macht es schon aus, unter welchen Vorzeichen man sein bißchen Lebensglück zusammenkratzt, das ohnehin so flüchtig ist wie die Blüte des Cereus, die nur eine Nacht im Jahr mit betörendem Geruch alle Falter und Insekten der Umgebung anlockt und schon am nächsten morgen verwelkt und unscheinbar nichts mehr von ihrer Pracht erahnen läßt.

Die Nacht der blühenden Kakteen. Roman von Shani Mootoo. Übersetzung: Claudia Brusdeylins Claasen Verlag, München 1999. 320 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,14

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