Die Schönheit der kleinen Unterschiede

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Literarische Grenzgänge und Dialoge gegen Vereinfachungen. Laudatio auf Karl-Markus Gauß beim Dehio-Literaturpreises.

Karl-Markus Gauß ist einer der recht wenigen Schriftsteller, die ich betont dialogisch gelesen habe. Ich habe seine Bücher nicht als abgeschlossene, in sich eingeschlossene Äußerungen erlebt, die eine endgültige Wahrheit des Autors aussprechen sollen, sondern als Repliken eines Partners im Dialog, als Äußerung, die darauf angelegt ist, eine Seite des Gegenstandes, von dem sie spricht, zu beleuchten und auszudrücken, und das auch deutlich zeigt.

Kritik als Gespräch

Karl-Markus Gauß schreibt Literaturkritiken für angesehene deutschsprachige Blätter wie Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Die Presse. Seine Kritiken sind oft Autoren aus Ost-oder Südosteuropa gewidmet, können aber keineswegs auf diesen Kreis beschränkt werden. Diese Kritiken zeigen eine beneidenswerte Vertrautheit mit dem kulturellen und literarischen Kontext, aus dem die einzelnen Autoren kommen, demonstrieren eine maximale Kompetenz in Fragen der literarischen Technik und der formalen Analyse, aber kein einziger Gaußscher Text über ein Buch beschränkt sich darauf. Seine Kritik ist nie neutral, sie schreibt sich in das Buch ein und bemüht sich, Gründe für seine Lektüre zu entdecken, deshalb ist die Kritik von Gauß immer auch ein Gespräch mit dem Buch ebenso wie ein Selbstgespräch anlässlich des betreffenden Buchs.

Darin weist die Literaturkritik Berührungspunkte mit einem anderen Segment der Arbeit von Gauß auf, mit der literarischen Essayistik in seinen Büchern Tinte ist bitter - Literarische Porträts aus Barbaropa und Die Vernichtung Mitteleuropas. Die Essays von Gauß über Miroslav Krleza und Ciril Kosmac, Prezihov Voranc und Bruno Schulz, Theodor Kramer und Albert Ehrenstein, Danilo Kis und Hermann Ungar, Fulvio Tomizza und Ismail Kadare wie auch eine Reihe anderer Autoren, die ich vielleicht weniger kenne oder weniger mag als die erwähnten, die aber wahrscheinlich nicht weniger bedeutend sind, korrespondieren in gewisser Weise mit seinen Kritiken der aktuellen Literaturproduktion. Die einen wie die anderen erforschen einen kulturellen und geistigen Raum, verzichten dem Einschreiben in den betreffenden Text zuliebe auf Neutralität und sind Gespräche mit Büchern oder einem Werk, mit einem Gegenstand oder einer Frage, aber die ganze Zeit auch Selbstgespräche, die offen nach einer Antwort auf die Grundfrage jeder Lektüre suchen: "Warum sollte ich das lesen?" d.h. "Warum lese ich das?" Ich gebe zu, dass ich diese Gaußschen Bücher außerordentlich mag, nicht nur weil ich darin luzide Überlegungen und geistreiche Analysen einer Reihe von Autoren finde, die ich selbst mag und von denen ich lerne, sondern vielleicht noch mehr, weil ein Essay von Gauß eigentlich ein Dialog mit dem Werk ist, über das er spricht, mit der Epoche und Kultur, der er sich zuwendet, eine aufregende Gegenüberstellung des Subjektes, das spricht, und des Gegenstandes, über den das Subjekt spricht und dem es, entgegen der traurigen Praxis unserer Zeit, erlaubt, ein Subjekt zu sein und sich als solches zu verhalten. Ja, genau so: Gaußens Essay ist ein Dialog zweier Subjekte, die sich in ihrer vollen Konkretheit gegenüberstehen.

Ein anderes umfangreiches Segment der Arbeit von Gauß ist die so genannte kulturpolitische Publizistik (die Bücher Der wohlwollende Despot, Ritter, Tod und Teufel, Ins unentdeckte Österreich, Das Europäische Alphabet), die ich lieber Prosa über kulturelle Identität und ihre eminent grenzhafte Natur nennen würde. Karl-Markus Gauß befasst sich geistreich und hartnäckig mit den Fragen der österreichischen wie er europäischen kulturellen Identität und dem Diskurs darüber. Auch in diesen Schriften sucht Gauß nach der Grenze als Ort, an dem die Form entdeckt und erkannt wird, auch in diesen Texten entdeckt er sich dem Gegenstand, über den er spricht, und lässt den Gegenstand sich ihm entdecken/offenbaren, sich dessen bewusst, dass einzig in der Gegenüberstellung zweier Subjekte, im Prozess des gegenseitigen Entdeckens/Offenbarens ein dialogischer Text entstehen kann, der offensichtlich eine Grundforderung seiner Poetik ist. Gauß offenbart uns Österreich als dichtes Netz von Grenzen und dann Europa als erweitertes Österreich und dass Österreich und Europa vor allem wegen ihrer "Grenzhaftigkeit" aufregend und anziehend sind, d.h. wegen der Tatsache, dass sie sozusagen aus einer unüberschaubaren Reihe kultureller Grenzen bestehen. Sind Österreich und Europa deshalb Orte starker Identitäten und betonter "Eifersucht der kleinen Unterschiede"?

Europas Grenzen

Ein besonderes Segment des Gaußschen Opus bildet, bedingt gesprochen, die Reiseprosa, eigentlich ein Genre, das sich einer Klassifizierung und eindeutigen Definition entzieht, weil es Reportage, Reisebeschreibung, Essay und Erzählprosa in sich vereinigt (in diesem Segment des Gaußschen Werks ist mir der Titel Die sterbenden Europäer am nächsten und am liebsten). Diese Bücher sind Minderheiten gewidmet, kulturellen und ethnischen Randgruppen, Ethnien, die aussterben, kulturellen Identitäten, denen das Verschwinden droht ... Also wieder die Grenze, dieses Mal eine neue Art Grenze und eine neue Perspektive, aber die alte, aus den früheren Büchern von Gauß bekannte Methode, die Methode des Kennenlernens des Gegenstandes, die eine dialogische Rede über ihn ermöglicht.

Und wieder ein besonderes Segment bilden die Texte wie die in dem Buch Der Mann, der ins Gefrierfach wollte gesammelten "Albumblätter", Texte, die Essays und Erzählungen, Anekdoten und ironische Kommentare sind. Dabei nicht zu vergessen den Anthologen Gauß (Das Buch der Ränder), den Herausgeber Gauß, was zumindest im Fall seiner Zeitschrift Literatur und Kritik durchaus eine Autorentätigkeit ist ...

Wie also sich und anderen die Linien der Kontinuität in diesem Werk sichtbar machen und die Elemente der Einheit, die dem Leser vollkommen klar sind, weil man sie bei der Lektüre spürt, aber für einen Betrachter von außen weniger sichtbar sind? Dieses schwierige Problem löste wie viele andere mein großer Lehrer Miroslav Krleza für mich. Er war so sehr Bürger und kulturelles Kind Mitteleuropas, wie man es überhaupt sein kann, und schrieb deshalb ein Leben lang seine Fragen, Zweifel, Verzweiflungen und Einwände hinsichtlich dieses kulturellen und politischen Raums auf. Schon in meiner Jugend verwendete ich, so für mich selbst, für das gesamte gewaltige Werk Krlezas den Titel seiner polemischen Schrift Der dialektische Antibarbarus. So hatte Krleza seine Polemik gegen die ideologischen Deutungen der Literatur genannt, in der er sich ihren Vereinfachungen entgegensetzte und gleichzeitig auf seinen großen Lehrer Erasmus von Rotterdam verwies, der seinerzeit auch selbst mit einem Antibarbarus gegen Vereinfachungen anderer Art, aber gleichermaßen gefährliche, gekämpft hatte.

Ein "Antibarbarus"

Mein großer Lehrer kam mir in den Sinn, als es galt, dieses Nachdenken vor Publikum über Karl-Markus Gauß zu beenden. Ich habe gezeigt, dass seine Denkweise seine Schriften zu einer Ganzheit verbindet, habe seine Besessenheit von der Grenze und von Grenzphänomenen gezeigt und wie gekonnt er den aktuellen Augenblick mit der tiefen Vergangenheit verbindet, indem er aufzeigt, wie sich das eine im anderen widerspiegelt, ich habe also mehr als genug auf Elemente der Einheit in Gaußens Arbeit aufmerksam gemacht. Aber das ganze Unterfangen ist vergebens, wenn ich nicht mir und meinen Gesprächspartnern helfe, das Wichtigste zu begreifen - die Freude, die die Lektüre der Gaußschen Texte mit sich bringt. Hier ist mir Krleza beigesprungen und hat mir durch sein Beispiel geholfen, eine der Quellen für die mit der Lektüre der Gaußschen Bücher einhergehende Freude zu erkennen.

Auch Gauß schreibt wie mein Lehrer an einem großen, nicht zu vollendenden Antibarbarus und kämpft gegen alle Vereinfachungen in sich und um sich herum. Und wer gegen Vereinfachungen kämpft, ist darauf angewiesen, Nuancen aufzudecken, andere auf sie hinzuweisen, an die Schönheit der kleinen Unterschiede und ihre Wichtigkeit für das Leben zu erinnern. Indem er das tut, zieht er den Leser ständig in seinen Text hinein, als unterhielte er sich mit ihm. Und was gibt es Schöneres, Heiligeres und Wichtigeres als ein Gespräch mit einem klugen Menschen?!

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber; von der Redaktion leicht gekürzt.

Der Autor ist 1953 in Duvno/Bosnien geboren, lebt in Graz und veröffentlichte zuletzt den Roman "Der nächtliche Rat".

Der Hauptpreis des Georg-Dehio-Buchpreises 2006 wurde Karl-Markus Gauß am 29. 11. in Berlin vom Deutschen Kulturforum östliches Europa verliehen.

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