Die schwarze Sonne der Melancholie

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Auch Alfred de Musset kAnnte sie gut: die MelAncholie tritt gerne Als Begleiterin von künstlerisch schAffenden Menschen Auf.

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Auch Alfred de Musset kAnnte sie gut: die MelAncholie tritt gerne Als Begleiterin von künstlerisch schAffenden Menschen Auf.

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Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, durch eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls." Diese Charakteristik der Melancholie, die von Sigmund Freud stammt, benennt einige Facetten eines Phänomens, das speziell bei künstlerisch tätigen Menschen häufig anzutreffen ist. So stellt sich schon der Philosoph Theophrast, der im 4. Jahrhundert vor Christus lebte, die Frage: "Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?"

Die Melancholie ist gleichsam ein Adelsprädikat, das die " Galerie der edlen Geister" der europäischen Literaturgeschichte -von Lord Byron, John Keats über Alfred de Musset, Charles Baudelaire, Henri Frédéric Amiel bis zu Giacomo Leopardi und Fernando Pessoa - auszeichnet.

Ohnmachtsgefühl

Die Melancholie -als Grundgestimmtheit des menschlichen Existierens -führt zu einer alles umfassenden Paralyse, zu einem Ohnmachtsgefühl. Jede Kraftanstrengung erlebt der Melancholiker als sinnlose Aktion; jede Aktivität, jeder Versuch einer Kontaktaufnahme zur Außenwelt ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Das Innere des Menschen scheint als eine bunt gefüllte und leidensvolle Vorratskammer von Übeln. Das Quälende der Melancholie war für Ferdinand Raimund, der lebenslang unter melancholischen Anwandlungen litt, eine "giftige Bella donna"; er sprach von "einer Zerrüttung der geistigen Maschine" und war von der Hinfälligkeit der menschlichen Existenz überzeugt: "Ich habe lange genug gelebt, um einzusehen" - notierte er mit einer Radikalität, die Samuel Becketts Einsichten vorwegnahm -"wie nichtig und eitel es auf diesem Stern zugeht, auf dem wir herumkriechen als riesensinnige, ungeflügelte, armselige Insekten." Eine kaum zu übertreffende Illustration dieses Zu-Stands hat auch der dänische Philosoph Sören Kierkegaard vorgelegt, wenn er schreibt: "Mein Kummer ist meine Ritterburg; sie liegt wie ein Adlerhorst auf der Spitze eines Berges und ragt hoch in die Wolken. Niemand kann sie stürmen. Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich unten nicht auf; ich trage sie heim auf mein Schloss. Was ich erbeute, sind Bilder, die ich in die Tapeten meines Schlosses hineinwebe. Dort lebe ich wie ein Toter."

Besonders verbreitet war die Melancholie in der Literatur der französischen Romantik. Romane wie etwa Chateaubriands "René", Benjamin Constants "Adolphe" oder Alfred de Mussets "La Confession d'un enfant du siècle" ("Bekenntnis eines jungen Zeitgenossen") sind von Gestalten bevölkert, die zahlreiche der von Sigmund Freud beschriebenen Facetten der Melancholie aufweisen.

Rückzug ins Ich

Speziell Mussets Roman enthält eine subtile Phänomenologie der Melancholie, die sowohl die gesellschaftlichen Ursachen als auch die persönliche Disposition des Helden Octave nachzeichnet. Musset, dessen 200. Geburtstag sich am 11. Dezember jährt, waren melancholische Gefühle keineswegs fremd. Nach einer wohlbehüteten Kindheit in einer adeligen Familie wählte er das Leben eines Dandys und Bohemiens, ging eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit George Sand ein, die scheiterte, und zog sich nach anfänglichen literarischen Erfolgen in eine Melancholiker-und Alkoholikerexistenz zurück, die am 2. Mai 1857 endete.

Mussets literarisches Schaffen ist von einer pessimistischen und verzweifelten Grundhaltung geprägt, von einem Rückzug ins Ich, die von einer tiefgreifenden Melancholie begleitet wird. Das zentrale Dokument dieser melancholischen Grundverfassung ist der 1836 publizierte Roman "Bekenntnis eines jungen Zeitgenossen". Darin beschreibt Musset die Geschichte des Dandys Octave, der von einer gesicherten gesellschaftlichen Position ausgehen konnte; im Alter von 19 Jahren hatte ihn noch nie ein Unglück heimgesucht, heißt es im Roman. Allerdings wuchs Octave in dem bleiernen Zeitalter der nachnapoleonischen Ära auf, die dem Jugendlichen die Luft zum Atmen nahm. Im zweiten Kapitel des Romans entwarf Musset eine beklemmende soziologische Studie dieser Epoche, die zu Recht als eine der eindringlichsten Beschreibungen dieses Zeitalters in der französischen Literatur gilt. Die Rede ist von einer "bewegungslosen, leeren Gegenwart", von einer "kummervollen Jugend", von einem "ungestümen, blassen, nervösen Geschlecht" (ein ähnliches Gefühl findet sich später bei dem Lyriker Georg Trakl, der vom "verfluchten Geschlecht" spricht). In der nachnapoleonischen Ära war "die Menschheit in Lethargie versunken; das innere Leben der Gesellschaft nahm einen düsteren Anblick an und hüllte sich in ein dumpfes Schweigen und ein Gefühl unbeschreiblichen Missbehagens begann in allen jungen Herzen zu gären, ausgeliefert der Trägheit und Langeweile". Die gesellschaftlichen Krankheiten des Jahrhunderts waren Entschlusslosigkeit, die Abkehr vom öffentlichen Leben und die Anziehungskraft der Melancholie. Das führte dann dazu, dass sich eine ganze Generation "auf dem Gipfel der Verzweiflung" (so formuliert es Musset, dabei einen Buchtitel des rumänischen Schriftstellers Emile Cioran vorwegnehmend) befand, also in einem kollektiven Ausnahmezustand, der mit einer "furchtbaren Hoffnungslosigkeit" verbunden war.

Entsetzlich traurig

Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund schildert Octave, bei welcher Gelegenheit er von der Krankheit des Jahrhunderts ergriffen wurde. Dies geschah während eines üppigen Festmahls, bei dem die Jeunesse dorée sich selbst feierte. Durch ein Missgeschick Octaves fiel die Gabel zu Boden. Um sie aufzuheben, bückte er sich und hob das Tischtuch hoch; dabei entdeckte er, dass seine Geliebte mit einem seiner besten Freunde, der ebenfalls am Tisch saß, die Beine kreuzte; "ihre Beine waren ineinandergeschlungen und von Zeit zu Zeit pressten sie sie sanft aneinander". Die Reaktion war heftig: "Ein unerwarteter Schmerz ergriff mich. Alle meine Gedanken schienen wie trockenes Laub von mir abzufallen, während sich in meiner Seele irgendwie ein unbekanntes, entsetzlich trauriges Gefühl ausbreitete."

Nichtigkeit oder Laune

Octave zieht sich in der Folge von der Außenwelt zurück, lehnt jeden Kontakt zu Bekannten und Freunden ab und überlässt sich mit einem masochistischen Genuss seiner elementaren Traurigkeit, die von heftigem Weinen begleitet wird. Das Individuum wird so zu einer Durchgangsstation wechselnder Gefühle der Trauer, die sich nicht genau lokalisieren lassen, wie auch der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa berichtet: "Es gibt einen inneren Schmerz, bei welchem man, weil subtile Dinge in ihn eingesickert sind, nicht unterscheiden kann, ob er von der Seele oder vom Körper herrührt, ob er ein Unwohlsein ist, weil man die Nichtigkeit des Lebens spürt, oder ob er die schlechte Laune ist, die aus irgendeinem organischen Abgrund auftaucht."

Im Unterschied zur verinnerlichten, weinerlichen Melancholie der Romantiker steht die Nobilitierung der Melancholie, wie sie in der Renaissance erfolgte. Besonders deutlich wird dies bei dem neuplatonischen Philosophen Marsilio Ficino, der von 1433 bis 1499 in Florenz lebte. Ficino, der die platonischen Werke vollständig übersetzt hatte und profunde Kenntnisse auf medizinischem und astrologischem Gebiet besaß, war zutiefst melancholisch. Darüber beklagte er sich in einem Brief an seinen Freund Giovanni Calvacanti; er schrieb, dass er nicht ein noch aus wisse und verzweifelt sei; dies ginge auf die mächtigen und düsteren Einflüsse des Saturns auf seinen Geist und sein Gefühl zurück. Sein Freund Cavalcanti reagierte auf diese Klage empört und beschwor Ficino, seine unberechtigte Klage zu widerrufen und wies auf die Vorteile hin, die er dem Einfluss des Saturn verdanke. "Woher hast Du das allumfassende Gedächtnis, dem alle Dinge mit ihren zeitlichen und örtlichen Umständen gegenwärtig sind?", heißt es in dem Brief, "das alles sind Geschenke des Saturn. Klage ihn also nicht an, der Dich über alle anderen Menschen hoch erhob."

Diese Form der Melancholie hat nichts mit jener klagenden Resignation und handlungsgehemmten Apathie zu tun, in die sich die romantischen Schriftsteller emphatisch hineinsteigerten. Cavalcanti duldete nicht den selbstmitleidigen Jammer oder die masochistische Faszination der Schwäche. Er forderte die Anerkennung für die positiven Seiten der Melancholie, für ihre produktive Kraft der intellektuellen Konzentration. Vielleicht hatte die Literaturtheoretikerin Susan Sontag diese Nobilitierung der Melancholie im Sinne, als sie folgende Charakteristik des melancholischen Intellektuellen formulierte: "Vor dem Weltgericht wird der letzte Intellektuelle -dieser saturnische Held der Moderne, mit seinen Ruinen, seinen abwegigen Visionen, seinen Träumereien, seiner undurchdringlichen Melancholie, seinem gesenkten Blick - erklären, dass er viele ,Positionen' innehatte, und dass er das Leben der Ideen bis zum bitteren Ende verteidigte, so weit er konnte."

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