Die Schwarzkunst der Worte

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Arthur Rimbaud (1854-1891) hat die Lyrik für immer verändert.

Ist es möglich, dass ein gerade einmal Neunzehnjähriger sein dichterisches Lebenswerk abschließt, das den Gang der lyrischen Dinge für immer verändern und ganze Epochen oder Stilrichtungen - wie den Expressionismus und Surrealismus - entscheidend beeinflussen wird? Ist es möglich, dass dieser Neunzehnjährige danach sein Schreiben unwiderruflich für den Rest seines Lebens einstellt? Es ist möglich.

Möglich wäre es auch gewesen, dass der junge Arthur Rimbaud, der zu dichten aufgehört hatte und Anfang 1875 nach Stuttgart kam, um sich als Hauslehrer zu versuchen und die deutsche Sprache zu erlernen - sein Lerneifer nimmt sogleich manische Ausmaße an und ersetzt das Dichten, er erlernt des weiteren in Windeseile Klavierspielen, Italienisch, Russisch, Hindustani und Arabisch - möglich wäre gewesen, dass er in der Neckarstadt, wo ihn Verlaine, der hassgeliebte Satyr, ein letztes Mal besucht, noch Eduard Mörike in dessen letzten Lebensmonaten hätte begegnen können, aber wohl nur, um einander beschweigen zu können.

Schreiben als Delirium

Rimbaud oder das Schreiben im und als Delirium. War er ein Vorläufer der surrealistischen "écriture automatique", durch die das und der Andere sich zur Sprache bringt? Muss man von Sinnen sein, um so sprachsinnlich dichten zu können, wie es Rimbaud auf diese einzigartige, bestürzende Weise gelang? Woher nahm er seine Bilder, Erfahrungen für diese Lyrik zwischen seinem fünfzehnten und neunzehnten Lebensjahr? Von René Char ist folgendes Wort über Rimbaud aus dem Jahre 1957 überliefert: Er verkörpere "die innere Wölbung des Bogens im Dichterischen".

Andere haben in ihm einen verteufelten Engel und engelhaftes Monster gesehen, der mit Zwanzig zum Handelreisenden mutierte, in der Wüste austrocknete, schlicht gesagt, verblödete. Peter Weiss und Hubert Fichte entwarfen eindrucksvolle biografische Szenarien zu Rimbaud, die fortsetzten, was Paul Zech mit seiner szenischen Rimbaud-Ballade "Das trunkene Schiff" (1926) versucht hatte; Martin Heidegger sagte über Rimbaud und dieses Leben eines Handlungsreisenden: "Sein Nicht-mehr-sprechen ist ein Gesagt-haben." Dem folgte dann aber die entscheidende Nachfrage: "Hören wir schon hinreichend deutlich im Gesagten der Dichtung von Arthur Rimbaud sein Geschwiegenes?" Mit anderen Worten: Vernehmen wir in seinen lyrischen Sprachkaskaden, die gleichwohl von einer atemberaubenden Genauigkeit und Schönheit sind, schon das kommende Schweigen? Und umgekehrt: Kann es gerechtfertigt sein, in Rimbauds nach 1876 geschriebenen dürren Geschäftsbriefen nach poetischen Restsubstanzen zu fahnden?

Farben zum Klingen bringen

Eine Gedichtzeile Rimbauds hat eine ganze lyrikgeschichtliche Epoche begründet: "A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles, / Je dirai quelque jour vos naissances latentes" - sagend die dunklen Ursprünge der Vokale, ihrer (Ton-)Färbungen enthüllen, "offenbaren", wie Stefan George übersetzte. Das ist keine vage Synästhesie, kein unverbindliches Zusammenspiel von Wahrnehmungsformen und sinnlichen Eindrücken, das sind unwiderruflich klingende Festlegungen, bevor der Dichter seine Vokale auf die Palette seiner Sprache aufträgt und mit ihnen arbeitet, ein Ansatz, der sogar noch in der Musik weiterwirkte - bis hin zu Skrjabin und seiner Idee, Farben zum Klingen zu bringen und den Klang in Farben zu verwandeln.

Rimbaud oder der eine Vers, das eine Gedicht, der eine Brief. Was immer er äußerte, schien darauf angelegt gewesen zu sein, dereinst einmal durchschlagende Wirkung zu haben. Sprach er in Pointen? Was er schrieb, gleicht lyrisierten Zuspitzungen. Das Werk, so Rimbaud, das sei "der gesungene und verstandene Gedanke des Sängers". Er äußerte diese Vorstellung in einem in Charleville geschriebenen Brief vom 15. Mai 1871. Dieser Brief liest sich wie ein Kommentar zu dem zwei Tage zuvor verfassten und an seinen Lehrer, Georges Izambard, gerichteten, zu jenem Brief also, in dem er die "Entregelung aller Sinne" forderte und von sich verlangte, sich selbst "sehend zu machen". Darauf die Sequenz: "Ich denke. Man müsste sagen: Es denkt mich [...] ICH ist ein Anderes." Gefolgt von einer ersten Gedichtzeile: "Mein traurig Herz speit auf dem Heck".

Das gequälte Herz eines schiffbrüchig Werdenden, Ekel Empfindenden - Ekel auch angesichts der Lage der Zeit. In Paris tobt der Aufstand der Kommune. Rimbaud weiß, dass "so viele Arbeiter sterben", während er diese Zeilen zu Papier bringt; er weiß aber auch, dass er seine dichterische Mission zu erfüllen hat. (Man fühlt sich erinnert an Goethes Gewissensbisse, angesichts hungernder Weber drüben in Apolda erhabene Dichtung in Weimar zu produzieren.)

Diese zwei Briefe Rimbauds haben in der Tat den Lauf des poetischen Selbstverständnisses grundlegend geändert. "Prosa über die Zukunft der Dichtung" hatte er sie genannt. Wegweiser zu sich selbst, und das hieß von nun an: ins Andere. Rimbauds Pointe ist es ja, das Andere, Fremde nicht außerhalb seiner Person zu suchen, sondern in ihr. Das poetische Aufdecken der inneren Schichten galt ihm als eine Fremderfahrung. Dass er nach seinem Verstummen als Dichter zum Handlungsreisenden wurde, hat daher etwas zwingend Konsequentes: Das Fremde in ihm lebte sich aus. Letztlich macht es da keinen Sinn, nach dem zu fragen, was nun das "Eigentliche", was bloße Maske bei Rimbaud gewesen war. Das Eigentliche hatte sich immer schon maskiert, und die Maske erklärte sich zum Eigentlichen. Und das Wesen? - Verwest.

Der Dichter als Verweser

Ein sinniges Wort, die alte Form für "Verwalter" im Deutschen: der Verweser, sinnig, weil es ausspricht, was der Dichter in der Moderne auch geworden war - nämlich einer, der das literarische Erbe camouflierend, parodierend verwaltete und es gleichzeitig zersetzte. Er setzt seine künstlerischen Formen wie Fermente ein, eine Entwicklung, die im programmatischen Sinne mit Baudelaire begann, genauer gesagt mit seinem Gedicht "Une Charogne". Indem das Aas zum poetischen Gegenstand avancierte, konnte es sich auch selbst als "irgendwie" attraktiver Kadaver der Tradition präsentieren. Mit Rimbauds Dichtungen kam dann aber eine unerwartet neue Kraft in den sprachlichen Ausdruck. Der Geruch der Verwesung wird zum Parfüm, zur Ausdünstung einer Fieberphantasie. Zuletzt wird Rimbaud einbekennen: "Ich musste auf die Wanderschaft gehen, die Zauberbilder zerstreuen, die sich in meinem Gehirn angesammelt hatten." Und dann sieht er plötzlich "auf dem Meer [...] das Kreuz des Trostes sich erheben". Zum Programm des Sehenlernens gehörte eben auch das Erkennen optischer Täuschungen.

Bleibend zeitgenössisch

Er kannte sie, die Wüsten der Liebe, die Höllennächte, die Schwarzkunst der Worte, die Delirien und Ernüchterungen. Die fortdauernde Zeitgenossenschaft Rimbauds liegt in seiner Sprache begründet, die keinerlei Patina anzusetzen scheint. Sie ist resistent, was das Veralten angeht. Das mag seine Ursache in ihrer paradoxalen Erscheinungsweise haben: Sie ist punktgenau und doch verwandlungsfähig, expressionistisch klingt sie, aber auch analytisch; sie ist ein ästhetisches Ereignis und anmaßendes Skandalon - Engelsklänge auf der Schwelle zur Hölle hervorgezaubert, so klingen viele dieser Verse - und man muss, muss sie im Original hören: "J'ai embrassé l'aube d'été" - ich habe des Sommers Morgenröte umarmt. Oder: "le dégagement rêvé, le brisement de la grâce croisée de violence nouvelle!" - die erträumte Befreiung, das Zerbrechen der Gnade, durchkreuzt von neuer Gewalt! Will einem da nicht scheinen, als habe Rimbaud das Französische als ein existentielles Melodram aufgeführt, weil es selbst nicht mehr wusste, wo es in Rimbauds Zeit hin sollte mit seiner aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden (schein-?)rationalen Klarheit?

Er, Rimbaud, hatte sich anheuern lassen von seinem "Bateau ivre", seinem trunkenen Schiff, das zur Geistergaleere der Moderne wurde. Aus seinen Planken ist kostbares Treibholz geworden; und sein Ächzen kommt als Flaschenpost noch immer an unseren Küsten an.

Der Autor ist Professor an der Queen Mary-Universität in London.

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