Die internationale Politik bemüht sich ebenso verzweifelt wie unkoordiniert, die Dynamik der Finanzmärkte zu bremsen. Ende Juni wollen die G20 neue Regeln verabschieden, um den Handel mit Hochrisiko-Wertpapieren und Derivaten wieder überschaubarer zu machen. Was der Staatengemeinschaft dabei fehlt, ist Einheit und Strategie.
Früher einmal war Andrew Lahde ein vielbeschäftigter Mann. Ein Termin jagte den anderen, drei Monate im Vorhinein war sein Terminkalender ausgebucht, seine zwei Wochen Urlaub pro Jahr verbrachte er damit, ununterbrochen „im Netz zu hängen“, um Börsenkurse zu beobachten. Mindestens 14 Stunden pro Tag wettete Lahde im Namen der Kunden seines Hedgefonds auf steigende und fallende Kurse in der schillernden Welt der Finanzmärkte.
2007 erlebte dieser Andrew Lahde seine Sternstunde, als er den Verfall der US-Immobilienwerte vorausahnte, auf die fallenden Kurse wettete, ohne auch nur ein Immobilienpapier in Händen zu halten, und mit diesem virtuellen Geschäft binnen weniger Monate die Rendite seines Hedgefonds auf 1000 Prozent schraubte.
Heute ist Lahde kein vielbeschäftigter Mann mehr. Nach dem Megageschäft mit dem Finanzcrash tauchte er mit einem achtstelligen Dollarbetrag ins Privatleben ab und wurde zur Legende. In einem Abschiedsbrief bot er nämlich nicht nur Einblicke in die Kultivierung von Marihuana, sondern auch in seine beruflichen Erfahrungen: „Ich habe das Spiel wegen des Geldes mitgemacht. Die Idioten, deren Eltern für Yale und den Harvard-Abschluss blechen – warteten nur darauf, gepflückt zu werden. Diese Leute waren wirklich ihre Ausbildung nicht wert, aber sie stiegen in Unternehmen wie Lehman Brothers sowie in alle Ebenen unserer Regierung auf. Das machte es mir einfach.“
Die dankbaren Dummen
Die Dummheit der Banker und Offiziellen als Steigbügelhalter für Hedgefonds? Für Fundamentalkritiker jedenfalls eine reizvolle Idee, zumal die amerikanischen Zustände mit Abstrichen den europäischen gleichen. Doch nach dem Lahde’schen Modell wäre es genau diese gescholtene Elite der Wenigbegabten, die nun jene Märkte zu regulieren haben, die ihnen an Gnadenlosigkeit und Schnelligkeit haushoch überlegen sind. Einer der wortgewaltigen Ökonomen, Nouriel Roubini, hat diese Lähmung der Politik vor wenigen Tagen bei einem Vortrag in London beschrieben. Während sich die Gesetzgeber in Diskussionen verzettelten, würden Hedgefonds- und Private-Equity-Manager munter Kasse machen: „Es läuft Business as usual“, so Roubini, „sie verzeichnen die gleichen hohen Profite wie vor der Krise, es ist die Rückkehr der Hochrisiko-Investments. Diesmal tun sie es allerdings nicht mit privatem, sondern mit Staatsgeld.“ Und wie reagieren die Staaten? Zumindest an ehrgeizigen Plänen besteht kein Mangel. Schon in vier Wochen, beim Gipfel der 20 führenden Industrienationen in Toronto, so heißt es in Washington, London, Brüssel und Berlin, sollen neue Regulierungen dem Treiben auf den Finanzmärkten Einhalt gebieten.
Hektische politische Aktivität
Und doch ähnelt die Suche nach einer politischen Einigung eher einem hilflosen Tasten im Dunkeln. Ein jeder sucht blind seinen eigenen Weg, notfalls auch gegen die anderen und jedenfalls „äußerst unkoordiniert“, wie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zusammenfasste.
Deutschland etwa preschte im Alleingang mit einem Verbot der sogenannten ungedeckten Leerverkäufe von Staatsanleihen und den zugehörigen Kreditausfallsversicherungen vor. Zusätzlich ergingen sich Deutschland, aber auch Österreich in ihren Fantasien für eine Finanztransaktionssteuer und eine Bankensteuer. Die USA wiederum regelten im Alleingang Teile ihres Bankensektors, erließen unter anderem eine Registrierungspflicht und Kontrolle für Hedgefonds. Großbritannien steht im Wesentlichen hinter den Plänen der USA, leistet aber gegen eine von den anderen befürworteten Spekulationsertragssteuer hinhaltenden Widerstand. Kanada wieder legt sich gegen die Bankensteuer quer. Aus diesem Gewirr der Standpunkte und Gesetze also soll der G20-Gipfel homogenes Handeln gießen. Doch derzeit erschöpft sich die Gemeinsamkeit in verbalen Ausritten gegen die „Gier der Märkte“. Wenn etwa Deutschlands Wolfgang Schäuble alle Bedenken von Finanzmarktvertretern vom Tisch wischt: „Wer einen Sumpf trocken legen will, darf nicht die Frösche fragen.“
Vier Wochen vor dem G20-Treffen in Toronto haben jedoch, so scheint es, die Frösche die besseren Karten. Das politische Durcheinander bestrafen sie täglich mit Kursstürzen an den Börsen und geharnischten Drohungen gegen jede einzelne Maßnahme. Von „unüberlegten Reflexen“ der Politik sprechen etwa die Vertreter der größten Internet-Trading-Plattform ETX.
Auch in den führenden Wirtschaftszeitungen, der FAZ und der Financial Times, treten gehäuft Experten auf, die in den Forderungen die Schädigung von Kleinanlegern sehen. Zahlreiche Hedgefonds drohen mit der Abwanderung in die Schweiz oder nach Singapur, wo noch die alten Spielregeln der unlimitierten Risiken gelten. Solche Botschaften scheinen nun erste Wirkung zu zeigen. EU-Handelskommissar Barnier spricht jedenfalls schon von der „Gefahr politischer Fehler mit ernsten Konsequenzen“. Anlässlich einer Expertentagung zur Vorbereitung des Toronto-Gipfels blieb Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel vorbehalten, das Meinungschaos in einem Stoßseufzer auf den Punkt zu bringen: „Das ist extrem frustrierend!“
Bloße Symptomkur?
Vielen Experten gehen nun selbst alle diskutierten Maßnahmen zusammengenommen – Finanztransaktionssteuer, Bankensteuer, Finanzaktivitätssteuer (Steuer auf Gewinne und Gehälter der Banken) – nicht weit genug. Sie würden nur Symptome unterdrücken und die Rachebedürfnisse wütender Steuerzahler befriedigen. Die Krankheit der Märkte bliebe unbehandelt. Nouriel Roubini ist einer dieser Mahner.
In seinem neuen Buch „Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft“ fordert er die Einschränkung der Bankgeschäfte. Etwa die Verlagerung des Handels von Kreditderivaten aus dem nahezu unkontrollierten Graubereich der Banken heraus zur vollen Transparenz der Börsen und eine öffentlich zugängliche Datenbank für Kreditausfallsversicherungen. Die „Wettverträge“ auf diese „Credit Default Swaps“ sollten generell verboten werden, eine Behörde sollte den Handel mit Risikopapieren überwachen. Die Umsetzung solcher Forderungen ist freilich schwer, geht es für die Banken dabei doch um ein geschätztes Handelsvolumen von 600.000 Milliarden Dollar pro Jahr.
Bei all dem Gezerre um die Finanzmärkte ist die zweite Hauptfrage für die Gipfelteilnehmer noch gänzlich unbehandelt: Was passiert weiter mit den überschuldeten Staatsfinanzen? Ihrer Budgetnöte ist Europas Politik durch die Regulierung der Finanzmärkte allein jedenfalls nicht ledig. Es bleiben die berechtigten Sorgen um die Stabilität der Eurozone, die das Währungssystem als solches weiter unter Druck setzen und den Schuldenzins noch teurer machen dürften.
Bedrohlich unwiderlegt schwebt über diesem aktuellen Szenario der Satz des österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises aus dem Jahr 1912: „Es gibt keinen Weg, den finalen Kollaps eines Booms durch Kreditexpansion zu vermeiden. Die Frage ist nur, ob die Krise früher durch freiwillige Aufgabe der Kreditexpansion kommen soll oder später zusammen mit einer finalen und totalen Katastrophe des Währungssystems.“
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