Die spinnen, die Deutschen!

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Alle meine Vorurteile über die Deutschen haben sich bestätigt.

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Alle meine Vorurteile über die Deutschen haben sich bestätigt.

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Nachtzug Wien - Hamburg, im Liegewagen: Der ältere Herr in meinem Abteil möchte offensichtlich hinausgehen, denn als ich, hereintretend, die Schiebetüre schließen will, befiehlt er mir: "Auflassen!" Die Dame, neben der ich die ganze Nacht schlief (durch den Gang getrennt, wohlgemerkt), bringt kein "Guten Morgen" über die Lippen, frühstückt schweigend und steigt ebenso stumm aus. Willkommen in Deutschland und gut, daß ich gleich ma' klar kriege, wo's hier langgeht!

Bei dem rücksichtslosen Gedrängel in öffentlichen Verkehrsmitteln fällt mir das Bild vom Großstadtdschungel ein - da herrschen härtere Gesetze. Manieren sind manieriert. Als eine Frau mit Kleinkind und einem Baby im Kinderwagen einsteigen will, bequemt sich keiner der jungen Männer, die im Bus sitzen, ihr zu helfen. Nur eine alte Frau bemüht sich, den Wagen mit anzuheben - beinahe wäre er umgekippt. Wäre das Baby auf die Straße gefallen, hätte sich die junge Frau als Anteilnahme wohl vorwurfsvolle Blicke und vielleicht Zurechtweisungen zugezogen.

Ein weiterer Versuch, in einem anderen Ambiente kultivierteren Umgang zu erleben, führt in die berühmten Theater. Beim üblichen Schmuddelwetter drängt sich eine Menschentraube an der Eingangsstiege, denn Einlaß ist etwa 20 Minuten vor Beginn der Veranstaltung. Das Mädel an der Garderobe, auf Plateauturnschuhen, gibt kurze Antworten in einem Ton, der sich schriftlich nicht wiedergeben läßt. Ihre Hilfe wird auch wenig gebraucht, weil die meisten Besucher auf ihren Anoraks sitzen oder sie zwischen ihre ausgefransten Jeansbeine unter den zerkratzten Sitz stopfen. Wie schön, daß eine findige Firma in allen Theatern, auch in der Staatsoper, Brezeln verkauft. Wer über den Zynismus der postmodernen Inszenierung nicht lachen mag, kann sich so immerhin an den leise mahlenden Kinnbacken rundherum belustigen; Dürrenmatt hätte gesagt: "grotesk!", das Publikum der Wiederkäuer.

Freilich gibt es ernstere Erlebnisse. Stillosigkeit ist eine traurige Sache, aber keine dramatische. Die sichtbare Verwahrlosung vieler Jugendlicher oder der Alltagsalkoholismus mit den mittäglichen Bierdosen erscheinen besorgniserregender. Von dem Fixer, über den man beim Einsteigen in die vollbesetzte U-Bahn fast stolpert, während er vor Zittern die Nadel nicht mehr in seine Vene bringt, will ich nicht weiter erzählen. Das gibt es angeblich in anderen Großstädten auch.

Ich gebe zu, daß ich mit manchen Vorurteilen von Wien nach Norddeutschland zog - aber keines, das sich nicht Woche für Woche bestätigen würde.

Blickkontakt wird tunlichst vermieden - das wäre ja "Anmache". Oder wie oder was? Die Kommunikation mit Menschen, die man nicht näher kennt - und das sind ja bei weitem die meisten - ist auf das Notwendigste beschränkt. Es braucht keine umständlichen Floskeln wie "Wären Sie bitte so nett, mir ein Bier zu bringen?" Nach der Gegenfrage: "Was?" steigt man bald um auf die effektive einheimische Sprachregelung: "Bia!" Und wenn es geschmeckt hat, war es nicht einfach gut, sondern "in Ordnung".

Kommunikationsangst Woran mag all das liegen? Am deprimierenden Wetter? Spielt die schiere Größe Deutschlands eine Rolle - was ist schon einer von 80 Millionen, wenn er weder aus einer humanistischen Tradition noch einem religiösen Glauben seinen Selbstwert bezieht? Etwa 40 Prozent der 1,7 Millionen Hamburger gehören keiner Religion an. Mein Eindruck ist, daß die zwischenmenschliche Grundhaltung von Mißtrauen geprägt ist. Es gibt Hamburger von ausgesuchter und wohltuender Höflichkeit, doch die bekannte Verschlossenheit oder Steifheit erscheint mir tatsächlich als eine Kommunikationsangst. Hamburg war immer Geschäfts- und nicht Kulturstadt - es ist verwunderlich, daß keine gesprächige/kontaktfreudige Händlermentalität herrscht: Es fehlt das "Kleingeld der Freundlichkeiten", der Floskeln, des Small-talk, all das, was den Alltag menschlicher gestaltet. Die vielgepriesene Liberalität der Hansestadt, in der jeder unbehelligt nach seiner Fasson leben kann, ist die andere Seite der Medaille eines extremen Individualismus.

Hamburg ist eine Weltstadt, deren "Centrum" von gigantischen Kaufhäusern internationaler Konzerne beherrscht wird. Innenstadt heißt sie treffender als Altstadt, denn Altes gibt es kaum mehr. Für die Kriegsschäden können die Hamburger nichts, doch ein Stadtführer meint, seit den sechziger Jahren sei es das Hobby der Baubehörde, alte Gebäude niederzureißen. Habe ich darum nirgendwo so viele schwarzgekleidete Menschen gesehen wie hier?

"Die steife Tölpelei der geistigen Gebärde, die plumpe Hand beim Fassen - das ist in dem Grade deutsch, daß man es im Auslande mit dem deutschen Wesen überhaupt verwechselt. Der Deutsche hat keine Finger für nuances ..." So bemerkte Friedrich Nietzsche in "Was den Deutschen abgeht". Das arme Norddeutschland liegt zwischen den Welten: keine französische Kultiviertheit, keine italienische Grazie und Kommunikationsfreude, keine britische Höflichkeit und keine alpenländische Bodenständigkeit ... Kein Wiener Schmäh. Die Reaktion darauf ist Befremden. Das Gefühl, die Lage nicht durchschauen zu können, erzeugt Unwillen, und das ist ein Realitätsverlust. Denn der Schmäh ist wie die jiddische Verschmitztheit oder der Wiener Walzer ein Zugleich von Ernst und Ironie, eine Haltung, die vielleicht von Trauer über die Wirklichkeit durchstimmt ist und sich davon gleichzeitig belustigt distanziert.

Der "Standarddeutsche" hingegen fordert sein Recht auf eindeutige Orientierung. Sein Humor kommt nicht aus freiem, von sich selbst Abstand nehmendem Geist, sondern aus einer negativen Grundhaltung. Jeder Deutsche lacht im Durchschnitt nur sechs Minuten am Tag", schrieb das Hamburger Abendblatt kürzlich. "Wer gesund leben will, sollte täglich aber mindestens 20 Minuten guter Laune sein" - gut, daß es nicht bei der wissenschaftlichen Feststellung bleibt, sondern zugleich eine "Lachtherapie" aus Indien empfohlen wird.

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