Die Telefonnummer auf dem Oberarm

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Es gab tatsächlich eine Zeit, wo man dachte, über den Holocaust sei alles gesagt - zumindest literarisch. Das war, bis 1992 Ruth Klügers Buch weiter leben. Eine Jugend erschien. Und seither hat nur mehr der Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész (deutsch 1996) dieses Thema im deutschsprachigen Raum von Grund auf neu dargestellt. Kertész hat ganz bewusst einen Roman geschaffen, Ruth Klüger sich kompromisslos auf eine Autobiographie verpflichtet: Sie durfte nicht erfinden. Aber sie hat nicht einfach erzählt, was es bedeutete, als Elfjährige in das KZ Theresienstadt deportiert zu werden, sondern die Auswirkungen auf ihr Leben und Erleben reflektiert.

Viel Zeit musste vergehen, bis Ruth Klüger, die 1947 in die USA emigrierte und dort an renommierten Universitäten (u. a. Princeton) als Professorin für deutsche Sprache und Literatur lehrte, dazu imstande war. Auch guten Bekannten gegenüber hat sie die auf ihrem Oberarm tätowierte Auschwitz-Nummer als Telefonnummer ausgegeben, weil sie nicht über ihre Vergangenheit sprechen wollte. Erst ein schwerer Fahrradunfall während ihrer Gastprofessur in Göttingen spülte die alten Bilder an die Oberfläche und ließ das Buch entstehen.

Seither wurde Ruth Klüger mit vielen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet (u. a. Thomas-Mann-Preis und Goethe-Medaille) und ist eine begehrte Rednerin. Unvergessen sind ihre Wiener Vorlesungen Schnitzlers Damen, Weiber, Mädeln, Frauen und über alte Menschen in der Dichtung (Ein alter Mann ist stets ein König Lear) sowie ihr Festvortrag über die Opferung Isaaks durch Abraham bei den Salzburger Hochschulwochen.

Lakonischer Charme

Ruth Klüger ist eine präzise Gesprächspartnerin, die nie ablenkt und sich nicht ablenken lässt von dem, was sie zu sagen hat. Als mich der Bayerische Rundfunk 1994 erstmals einlud, ein einstündiges Gespräch in der Sendereihe Memoiren zu führen, wollte ich das unbedingt mit Ruth Klüger tun, weil ich mir sicher war, ich müsse sie weder aus der Reserve locken noch würde sie mich mit ihrer Autorität niederreden. Sie hat immer einen klaren Standpunkt, aber argumentiert ihn, und wenn sie von ihren Erfahrungen spricht, verschanzt sie sich nicht dahinter. Das Berühmt-Werden hat ihrem lakonischen Charme nichts von seiner Natürlichkeit genommen. Längst habe ich den Namen des für die Stadt charakteristischen Kuchens vergessen, zu dem sie mich in ihre Göttinger Wohnung einlud, nicht aber das damalige Gespräch über Lyrik. Ruth Klüger ist in vielen Gedichten zu Hause - das Auswendiglernen war auch eine Überlebensstrategie im KZ.

"Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nicht gelang", heißt es in weiter leben. Eine Jugend. Gerade darum war es ein langer Weg, bis sie die Stadt besuchen konnte, in der sie schon als Siebenjährige nicht mehr auf einer Parkbank sitzen durfte. Gekommen ist sie u. a. zu einer Gastprofessur an der Universität und zuletzt im September zur Überreichung des Käthe Leichter-Staatspreises für Frauen-und Geschlechterforschung. Frauen lesen anders heißt einer der Essaybände, für die Ruth Klüger im Jänner 2007 den Lessing-Preis des Freistaates Sachsen entgegennehmen wird. Aber davor gibt es noch einen anderen Grund zu feiern: ihren 75. Geburtstag am 30. Oktober. Cornelius Hell

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