Die Theater an den Rändern von Wien

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In der Theaterstadt Wien hat sich im Schatten der großen und hoch subventionierten Häuser eine lebendige Szene mit zahlreichen Klein- und Mittelbühnen entwickelt. Patric Blaser hat sich umgesehen - der erste Teil seiner losen Serie führt in das TAG und das Werk X.

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In der Theaterstadt Wien hat sich im Schatten der großen und hoch subventionierten Häuser eine lebendige Szene mit zahlreichen Klein- und Mittelbühnen entwickelt. Patric Blaser hat sich umgesehen - der erste Teil seiner losen Serie führt in das TAG und das Werk X.

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Wien ist eine Theaterstadt, das ist hinlänglich auch über die Grenzen des Landes bekannt. Vor allem verdankt die Bundeshauptstadt diesen Ruf der Strahlkraft seiner großen Theater, allen voran dem Burgtheater. Weniger bekannt ist hingegen, dass sich im Schatten der hoch subventionierten, schier übermächtigen Stadt- und Staatstheater in der Donaumetropole eine äußert lebendige Theaterszene mit Mittel-und Kleinbühnen etabliert hat, die um die Aufmerksamkeit von Publikum und Presse kämpfen muss.

Da wäre zum einen das TAG (Theater an der Gumpendorfer Straße), das 2004 im Rahmen der Wiener Theaterreform als Kooperative von drei freien Theatergruppen als Nachfolger der legendären "Gruppe 80" entstanden ist. Das zunächst recht breite inhaltliche und auch ästhetische Angebot des TAG hat sich im Lauf der vergangenen zehn Jahre deutlich in eine eigene Richtung entwickelt. Vor allem seit man sich entschieden hat, die kollektive Leitung in einzelne Hände zu legen und Gründungsmitglied Margit Mezgolich 2009-2013 erstmals alleine künstlerisch verantwortlich zeichnete, hat die in einem ehemaligen Kino im 6. Wiener Gemeindebezirk untergebrachte Mittelbühne deutlich an Profil gewonnen.

Klassikerbearbeitungen als Nische

Das Haus, das mittlerweile in der dritten Spielzeit von Gernot Plass geleitet wird und heuer im Jänner sein zehnjähriges Bestehen feiern konnte, leistet sich ein kleines, aber feines fünfköpfiges Ensemble, das nach Bedarf ergänzt und mit dem auf den ersten Blick ganz konventionelles Sprechtheater erarbeitet wird. Die über 50 Eigenproduktionen umfassende Liste aus zehn Jahren offenbart bei genauerem Hinsehen aber, dass das TAG eine ganz spezifische Nische theatraler Formen für sich entdeckt hat: Es arbeitet sich fast ausschließlich an bekannten, oft sehr berühmten Vorlagen ab. Die Neu-, Über- oder Weiterschreibungen der Stoffe sind nicht selten dem Kanon der klassischen Dramenliteratur entlehnt, so etwa die noch im Repertoire gespielten Produktionen "Bluad, Roz und Wossa","sehr frei nach Shakespeares Romeo und Julia", oder "Faust-Theater" nach Goethes Klassiker, sowie demnächst "Das Spiel: Die Möwe"(Premiere am 2. April).

Es kommt aber auch vor, dass Filme Ausgangspunkt der theatralen Erkundung sind, wie etwa "Rashomon, was wirklich war" nach Akiro Kurosawas gleichnamigem Film oder jüngst Luis Buñuels "Der diskrete Charme der Bourgeoisie", den Ed Hauswirth zu einem fulminanten Porträt der Gefühlslagen des zeitgenössischen Mittelstandes umgearbeitet und dafür im vergangenen Jahr prompt den Nestroy für die beste Off-Produktion eingeheimst hat.

Von Caligari zu Hitler"

Auch die seit einigen Jahren beliebte Mode, epische Stoffe für das Theater einzurichten, ist am TAG nicht ohne Widerhall geblieben. Aktuell ist Canettis Romanungetüm "Die Blendung" aus dem Jahr 1936 in einer klugen Bearbeitung und handwerklich überzeugenden Inszenierung von Margit Mezgolich zu sehen. In seinem einzigen Roman führt Canetti in gleichnishafter Verdichtung vor, was passiert, wenn zwei Welten unversöhnlich aufeinanderprallen. Auf der einen Seite ist das die des "weltberühmten Sinologen" Dr. Peter Kien, eines eskapistischen, der Realität entfremdeten Intellektuellen, und auf der anderen Seite das kleinbürgerlich-proletarische Milieu seiner Haushälterin Therese Krumbholz. Beide sind zur Verwandlung unfähig, worunter Canettis poetische Anthropologie die tiefreichende Teilhabe an anderen Menschen, die Fähigkeit meinte, die Erfahrung anderer von innen her nachzuvollziehen. Die psychotische Ver-Blendung führt ins pathologisch Irrationale, Wahnhafte und letztendlich in die Katastrophe. Mezgolich ruft den pathologischen Befund von Canettis Gesellschaftsdiagnose gleich mehrfach auf, indem sie in einer Rahmenhandlung geschickt einen Erzähler einführt, der einerseits die Romanvorlage stets in Erinnerung behält und es andererseits ermöglicht, zwischen direkter Rede und innerem Monolog die Mitte zu halten. Vor allem aber erinnert diese Konstruktion an den berühmten expressionistischen Stummfilm "Das Cabinet des Dr. Caligari", was durch die insgesamt expressionistische Spielweise sowie die pechschwarze, verwinkelte, wandelbare Bühne noch verstärkt wird. Damit kontextualisiert die Regisseurin ihre Inszenierung im kollektiv Imaginären, indem sie ganz bewusst auf die fast schon unvermeidlichen Assoziationen setzt, die Siegfried Kracauer -mit Blick auf die fürchterlichen Despoten, Verbrecher, Wahnsinnigen und merkwürdigen Kleinstädter, die den Film der Zwischenkriegszeit so reichlich bevölkern -als zwingender Weg kernig beschrieben hat: "Von Caligari zu Hitler".

Ein weit weniger markantes, eigenständiges Profil als das TAG hat bislang das Werk X zu erlangen vermocht. Seit das Theater im Oktober 2014 vom Petersplatz im Zentrum Wiens hinaus in den zwölften Bezirk übersiedelt ist, ist es der ehemaligen Garage X um das Intendanten-Duo Ali M. Abdullah und Harald Posch noch nicht so recht überzeugend geglückt, zu erklären, warum das theaterinteressierte Publikum dem Ruf "Nach Meidling, nach Meidling!" ins "Theater am Arsch der Welt", so die weniger augenzwinkernde als vielmehr kokette Selbstbeschreibung, Folge leisten sollte.

Ein Coup ist den Intendanten allerdings jüngst geglückt, denn man darf annehmen, dass es nicht leicht war, die österreichischen Erstaufführungsrechte für Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" zu bekommen. Das hat sich zwar als äußerst publikumswirksam erwiesen, doch was das Team um Regisseur Abdullah aus Houellebecqs viel diskutierter Vorlage gemacht hat, wäre der Rede kaum wert, gälte der Roman nicht als so etwas wie das Buch der Stunde.

"Die Unterwerfung" im Werk X

"Soumission" erzählt aus der Ich-Perspektive eines Hochschuldozenten vom Jahr 2022: Um den rechtspopulistischen Front National zu verhindern, gehen die regierenden Parteien einen Pakt mit der Bruderschaft der Muslime ein, was den allmählichen Umbau Frankreichs in einen islamischen Staat zur Folge hat. Sowohl die dramaturgische Bearbeitung des Romans als auch seine Umsetzung, die so manch handwerkliche Schwäche erkennen lässt, gibt Anlass zu Kritik. Die Inszenierung vermeidet jede Interpretation, noch nimmt sie irgendwie Stellung zur Vorlage. Mit ihrem Realismus setzt sie sich der Gefahr aus, dumpfe Ängste zu schüren. Houellebecqs satirischer und überaus anspielungsreicher Roman kann nämlich als Kritik an der eigenen westlichen, permissiven Kultur gelesen werden, deren Kampfzonen banal und eindeutig sind: Geld und Sex. Mit Aussicht auf ein dreifaches Gehalt sowie auf mehrere unemanzipierte und verfügbare Ehefrauen, sind die männlichen Protagonisten nur allzu schnell bereit, alle Ideale beiseite zu schieben. Aber weder aus der Vieldeutigkeit, noch aus der satirischen Anlage der Vorlage wurde bühnenwirksames Kapital geschlagen. Dazu kommt, dass man den Roman, der sehr spezifisch französische Verhältnisse meint, auf unsere nationale Gegenwart hätte fokussieren müssen. Kurz gesagt: Die Inszenierung ist so nah am Text, die Personen sind so uninspiriert, ja auch unglaubwürdig gezeichnet, dass beim besten Willen nicht ersichtlich wird, warum man nicht ganz einfach das Buch lesen sollte. Aber alles in allem lohnt der Gang in die Theater an den Rändern Wiens, auch wenn er in letzterem Beispiel für einmal ins theatrale Niemandsland führt.

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