Die Tragik von Parteiräson

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Die FURCHE-Herausgeber

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An einem der Tage zwischen den Jahren stieß ich auf eine Zeitungsmeldung über den amerikanischen Ökonomen Joel Waldfogel, der seit etwa 20 Jahren mit immer feineren Methoden den Nachweis zu führen sucht, dass Weihnachten ein höchst ineffizientes Fest ist, weil wir uns zu viele Geschenke machen, die eigentlich keiner braucht. Penibel hat er mit seinen Studenten ausgerechnet, dass Selbstgekauftes im Schnitt um 18 Prozent mehr Zufriedenheit bringt als ziellos Geschenktes. Nach all den ökonomischen Fehlprognosen des vergangenen Jahres endlich konkrete Forschungsergebnisse zu einem aktuellen Problem – wenn das kein Stoff für eine Neujahrs-Kolumne ist!

Pavel Kohout – Prag, 1948

Aber dann las ich „Die Schlinge“, den gerade erst erschienenen Roman von Pavel Kohout, und war plötzlich in einem viel ernsteren Thema. Seit „Das Leben der Anderen“, dem Oscar-gekrönten Film von Florian Henckel von Donnersmarck, bin ich keinem so eindrücklichen künstlerischen Dokument der Zerrissenheit von Menschen begegnet, die sich zwischen dem abstrakten Ideal der Sache einer Partei und dem konkreten Ideal eines aufrechten Lebens zu entscheiden haben. Kohouts Text liest sich wie das packende Drehbuch zu einem hoffentlich in Zukunft noch entstehenden Film. Er spielt im Prag des Jahres 1948, mitten während der Machtergreifung durch Moskau-treue Kommunisten. Die Liebe einer charismatischen Schauspielerin zu ihrem wesentlich älteren Mann, einem führenden, liberalen Sozialdemokraten, und einem jungen, zunächst noch aus Idealismus parteitreuen Revolutions-Schriftsteller wird zum Opfer der politischen Ereignisse. Geheimdienstliche Intrigen, Verrat und ein Schauprozess bilden die Kulisse für eine schlüssig erzählte – und im Übrigen ausgezeichnet übersetzte – Geschichte.

Kohout, der heute mit seiner Frau Jelena in Wien und Prag lebt, war damals selbst im Alter von 20 Jahren. In seiner Erinnerung steht er dem um der revolutionären Sache willen zum Verräter gewordenen Dichter so nahe, dass er diesem in der tschechischen Originalfassung des Romans sogar seine eigenen Gedichte von damals „leiht“. Jahre später erst muss er entdecken, welchen Preis das tschechische Volk für seinen Weg in den Kommunismus zu zahlen hatte. Gemeinsam mit Václav Havel unterzeichnete er die Charta 77 und wurde wenig später nach Österreich ausgewiesen.

Misstrauen und Vernaderung

Der erfolgreiche Dramatiker und Romanautor – unvergesslich ist mir sein „August, August, August“ mit Inge Konradi 1971 im Akademietheater – befreite sich damals aus einem Dickicht des Misstrauens und der Vernaderung, in dem man – in den Worten seines Romanhelden – nicht mehr wissen konnte, „ob es schlimmer ist, die Feinde zu fürchten oder die eigenen Leute“. Das ist die Tragik von überzogener Parteiräson.

Nicht einmal heute, mitten in der von uns so weit unter ihren Möglichkeiten gelebten Demokratie, sind wir davor gefeit, blindmachender Parteilichkeit zu verfallen: Weil uns Kohouts packender Politthriller daran erinnert, wurde er, und nicht die vertrackte Weihnachtsökonomie, zum Inhalt dieser Kolumne.

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