"Die Uhr wird wieder zurückgedreht"

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Für den türkischen EU-Verhandler Ali Babacan ist der europäische Weg der Türkei unumkehrbar - ein Lokalaugenschein in Kurdistan zeigt hingegen, dass dieser europäische Weg von der Türkei noch gar nicht richtig eingeschlagen wurde.

Türkische Medien sind in diesen Tagen voll des Lobes für Ali Babacan, den Chef des türkischen Verhandlungsteams mit der eu, der zu Beginn der ersten offiziellen Gesprächsrunde in Brüssel durch seine Ruhe, seine Besonnenheit und seinem Realismus bestochen habe (siehe auch "Kopf der Woche", Furche Nr. 40).

80.000 Seiten Gesetzestexte müssen die Türken in den kommenden Jahren durcharbeiten, um ihre Gesetze an die europäischen Standards anzupassen. Der Weg ist dicht mit Minen bepflastert. Eine der vielleicht größten Hürden bildet die türkische Bürokratie. Babacan gesteht es offen ein: Sie ist "sehr konservativ". Jeder Bürokrat glaube an seinen unverrückbaren Auftrag, das Land zu schützen und zu bewahren. "Das ist eine sehr positive Einstellung doch wenn sie übertrieben wird", könnte sie alle Bemühungen der Regierung zunichte machen.

Babacan spricht damit eines der größten internen Probleme an, mit denen die verantwortlichen Politiker auf dem Weg nach Europa zu kämpfen haben. Kaum haben die Beitrittsgespräche begonnen, erheben die eu-Gegner in der Türkei immer lauter ihre Stimmen. Es sind jene, die vom Status quo profitieren: Branchen, die auf den Binnenmarkt fixiert sind oder von Staatsaufträgen leben. Der über allem schwebende Nationalismus wird genährt durch die ständige Angst vor Einkreisung und Zerstörung des Staates. Die Türkei aber, so meint Babacan, habe auf ihrem Weg nach Europa einen Punkt erreicht, an dem es keine Rückkehr mehr gebe.

Wie in großem Gefängnis

Ein Blick ins Kurdengebiet lässt jedoch schwere Zweifel an einer solchen Aussage aufkommen. Sechs Jahre nach dem offiziellen Ende des Krieges zwischen dem türkischen Staat und den Kurden unter Führung der Guerillaorganisation pkk liegt über Diyarbakir, dieser mit fast einer Million Menschen größten Stadt in Türkisch-Kurdistan, wieder ein düsterer Schatten. Wieder - wie während des Krieges - ist die Polizei allgegenwärtig, so als bewache sie die Menschen hier wie in einem großen Gefängnis. Vor den Toren der Stadt, deren Rebellion gegen die Zentralgewalt sich durch die Geschichte zieht, mahnt der Spruch des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk: "Der ist glücklich, der von sich sagen kann: Ich bin ein Türke." Besonders hier in Kurdistan wird jedem Kind dieses Motto nach wie vor in den Schulen eingebläut.

Guerilla in den Bergen

Weiter außerhalb der Stadt sind die beängstigenden Straßenblockaden der Sicherheitskräfte wieder da. An der Hauptstraße nach Bingöl stehen Panzer, die Kanonenrohre in die Berge gerichtet. "Guerillas halten sich hier in Höhlen verschanzt", bemerkt unser Fahrer trocken. Die bittere Enttäuschung über die ausbleibenden Früchte der Reformen in Kurdistan treibt heute wieder junge Männer zum Kampf um die Grundrechte ihres Volkes in die Berge. An die 2000 Kämpfer sollen sich gegenwärtig in Höhlen und zwischen Felsen verstecken. Wiederholte Appelle der Kurden zum Dialog und Waffenstillstandsangebote haben Regierung und die mächtige Armeeführung beharrlich abgelehnt.

Die Hoffnung, die Tayyip Erdogan im Sommer durch eine - offenbar an Brüssel gerichtetete - Erklärung weckte, ist wieder zerstoben. Als erster türkischer Premier hatte Erdogan bei einem Besuch Diyarbakirs im August offen vom "Kurdenproblem" gesprochen, das nur "durch mehr Demokratie, mehr Bürgerrechte und Wirtschaftswachstum" gelöst werden könne. Doch diesen Worten folgte nichts mehr, weder ein ökonomisches Programm, noch ein politisches zur Bewältigung dieser Probleme, ja nicht einmal Versuche, mit kurdischen Vertretern und Intellektuellen einen Dialog zu beginnen.

Eine eu-Delegation kam eben von einer Reise durch Kurdistan mit einem erschreckenden Bericht zurück: Menschenrechtsverletzungen hätten im Kurdengebiet wieder alarmierend zugenommen, ja Soldaten hätten mutmaßlichen pkk-Sympathisanten gar Ohren abgeschnitten und Augen ausgestochen.

Auch die Menschenrechtsorganisation ihd in Diyarbakir bestätigt: Die Uhr wird wieder zurückgedreht. Zwar hätten sich die Fälle von Folterungen in Polizeihaft verringert, "doch in Wahrheit haben die Sicherheitskräfte nur ihre Methoden geändert", meint ihd-Vertreter Perincek. "Nun werden Verdächtige außerhalb der Polizeistationen gefoltert, bevor man sie festnimmt." Die Zahl "mysteriöser Morde", für die man die Sicherheitskräfte verantwortlich macht, nimmt ebenso zu wie Morddrohungen gegen Menschenrechtsaktivisten.

Verbotene Bücher

Verängstigt blickt ein junger Buchhändler im Zentrum Diyarbakirs um sich. Dann winkt er die Besucherin in den hinteren Teil des Geschäfts, beugt sich zu Boden und zeigt mit dem Finger auf das schmale unterste Fach einer kleinen Stellage. "Hier haben sie kurdische Bücher", flüstert er und entfernt sich rasch. Zehn bis 15 kleine Bändchen stehen da, versteckt, zur Auswahl unter Hunderten von prominent ausgelegten türkischen Publikationen. "Die Polizei kommt immer wieder und nimmt kurdische Bücher mit", erklärt ein anderer Kunde das Verhalten des Buchhändlers.

Zwar sollte die Türkei die Muttersprache ihrer mehr als zwölf Millionen Menschen zählenden kurdischen Minderheit anerkennen. Doch in der Praxis hat sich trotz massiven Drucks aus Brüssel kaum etwas geändert. Selbst die bettelnden Straßenkinder, die das Stadtbild prägen, wagen es nicht, kurdischsprechenden Fremden in ihrer Sprache zu antworten. Verschreckt treten sie zurück, zur Flucht vor möglichen Schlägen bereit, wenn sie kurdische Worte vernehmen. Mustafa, ein junger Internist und überzeugter Kurde, lässt seine Kinder gar nicht Kurdisch lernen, damit sie keine Schwierigkeiten bekommen. "Mein Großvater sprach nur Kurdisch, mein Vater beherrschte Kurdisch und Türkisch gleichermaßen, ich spreche perfekt Türkisch und schlecht und recht Kurdisch, meine Kinder können es gar nicht mehr."

Eine Tendenz, die sich überall unter den Kurden der Türkei bemerkbar macht. Die brutale türkische Assimilationspolitik der vergangenen Jahrzehnte zeigt eindrucksvolle "Erfolge". Mehr und mehr verlieren die Kurden ihre Sprache. Doch ihre Identität geben sie deswegen nicht auf - heute vertreten viele Kurden in der Türkei ihr Kurdentum überzeugt wie nie zuvor. Die pkk hat mit ihrem Feldzug die nationalen Gefühle dieses unterdrückten Volkes geweckt, freilich zu einem hohen Preis: Sechs Jahre nach dem formellen Ende des Krieges sind weder die Wunden geheilt, noch ist die Angst von den Seelen der Menschen gewichen. Nach neun Uhr abends wagen sich nur wenige Menschen auf die Straßen, auch wenn die Ausgangssperre längst aufgehoben ist.

"Kurden-Fuchs" gibt's nicht

Der Alltag für die Kurden gestaltet sich fast unverändert schwierig. Zahlreiche groteske Beispiele belegen dies: Während Brüssel die Einführung kurdischer Radio- und Fernsehsendungen als "ermutigende Fortschritte" in einem Land feiert, wo bis vor kurzem allein die Worte "Kurde" und "kurdisch" mit schweren Strafen belegt wurden, änderte das Umweltministerium die Namen von drei in der Türkei heimischen Tieren, um nicht länger "die Einheit der Türkei" zu gefährden: Der rote Fuchs "Vulpes Vulpes Kurdistanica" darf künftig nur noch "Vulpes Vulpes" genannt werden; das wilde Schaf "Ovis Armeniana" heißt ab nun "Ovis Orientalis Anatolicus"; und das Rotwild "Capreolus Capreolus Armenus" wurde in "Capreolus Cuprelus Capreolus" unbenannt.

Rote Karte wegen Kurdisch

Die Justiz machte 13 kurdischen Politikern den Prozess, weil sie auf dem ersten Kongress der neugegründeten kurdischen Partei Hak-Par (Recht und Freiheit) in Kurdisch gesprochen hatten. Das Verfahren wurde unterdessen vertagt, weil die Angeklagten vor Gericht nur Kurdisch sprechen wollen. Schwierigkeiten bekam auch ein kurdisches Fußballteam, dessen Mitglieder sich bei einem Freundschaftsspiel mit einer türkischen Mannschaft kurdische Worte zuriefen. Daraufhin zeigte die türkische Schiedsrichterin dem Kapitän des Teams die "rote Karte". Als die Mannschaft über diese Sanktion in Kurdisch diskutierte, wurde das Spiel abgebrochen und das Team aus der nationalen Liga ausgeschlossen.

Das von der eu hochgelobte Projekt von Privatschulen, die Kurdisch unterrichten, ist unterdessen kläglich gescheitert. Sieben Schulen im Kurdengebiet beschlossen, wegen enormer finanzieller Probleme ihre Tore zu schließen. Trotz gigantischer bürokratischer Hürden hatten diese Institute seit 2001 ohne jegliche finanzielle Unterstützung versucht, lernwilligen Kurden ihre Muttersprache beizubringen. Doch die Schüler mussten die Lehrbücher selbst bezahlen, während die Lehrer aus Idealismus auf ihren Lohn verzichteten. Die Beteiligung an den Kursen war mit enormen Problemen und Einschüchterungsversuchen durch die Behörden verknüpft.

"Der Staat zeigt hier einen ungeheuerlichen Zynismus", erregt sich der kurdische Historiker Celile Celil. "Zuerst tut er alles, um die kurdische Sprache zu töten, den Kindern in der Schule das Kurdisch auszutreiben, und dann, wenn sie schon gebrochen und eingeschüchtert sind, gestattet er ihnen, ein wenig Bekanntschaft mit ihrer Muttersprache zu machen." Wie hat eu-Unterhändler Ali Babacan gemeint: Die Türkei habe auf ihrem Weg nach Europa einen Punkt erreicht, an dem es keine Rückkehr mehr gebe - noch scheint es aber, sind vor allem die Fortschritte sehr dürftig.

Die Autorin ist Nahost-Korrespondentin.

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