Die ungeliebte Befreiung

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Was bedeutet 1945? Ungarns aktuelle Kontroversen und ihre Vorgeschichte.

Drei Jahrestage spalten die Ungarn in diesen Monaten: Der 13. Februar, als die Verbände der Roten Armee die Hauptstadt des Landes von den eingekreisten Einheiten der Wehrmacht befreiten. Der zweite ist der 4. April, als das Sowjetische Informationsbüro das Ende der Militäraktionen in Ungarn verkündete, und der dritte der 8. Mai, der Tag des Sieges, als die Anti-Hitler-Koalition die deutsche Armee zur bedingungslosen Kapitulation zwang. Das zweite Datum galt von 1946 bis 1989 als Nationalfeiertag und ging in den Kalender mit roten Buchstaben ein.

Okkupation feiern?

Im Februar dieses Jahres forderte der Klubobmann der Konservativen im Budapester Rathaus András Kupper den sozialistischen Vizebürgermeister János Schiffer auf, "Ungarns sowjetische Okkupation" nicht zu feiern, weil dies "das Andenken der Opfer verletze". Daraufhin äußerte der Stadtvater, der Abgeordnete ergreife diejenige Partei, "die man wegen Kriegsverbrechens zur Verantwortung ziehen müsste beziehungsweise die für ihre Taten die Verantwortung auf sich nehmen müssten." Daraufhin wandte sich der Betreffende an das Gericht.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Medián" betrachteten 31 Prozent der Bevölkerung die Vertreibung der deutschen Armee aus Ungarn als Befreiung, fast ebenso viele (29 Prozent) als Besetzung, während 35 Prozent der Befragten keine dieser Definitionen für akzeptabel hielten. Die Streuung der Meinungen nach politischem Standort der Befragten ergibt ein beinahe symmetrisches Modell: 43 Prozent der Anhängerschaft der regierenden Sozialistischen Partei (mszp) beurteilen die Ereignisse des 4. April positiv, 23 Prozent negativ. Bei der Wählerschaft der Bürgerlichen Partei von Viktor Orbán (fidesz-mpp) entspricht diese Bewertung dem Prozentsatz von 23 bzw. 41, während die Parteigänger der Liberalen (szdsz) zur Hälfte für "Befreiung" optieren und nur sechs Prozent von ihnen das historische Ereignis als "Okkupation" ablehnt. Allen drei Gruppen gemeinsam ist der hohe Anteil der Ratlosen.

Land politisch gespalten

Das Ergebnis der Befragung entspricht zweifelsohne der Spaltung des politisierenden Ungarns in "links" und "rechts". Gleichzeitig muss davor gewarnt werden, diesen Angaben absolutes Vertrauen zu schenken. Allzusehr sind die Befragten daran gewöhnt, sich nach ihrer Parteipräferenz zu richten. Die Proportion 50 zu 50 Prozent entspricht ungefähr dem Ausgang der Parlamentswahlen von 2002 und dem Referendum vom Ende des vorigen Jahres über die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten. Der Ausgang jeder dieser Kampagnen wurde allerdings letzten Endes von den Unentschlossenen entschieden. Der Streit um die "Befreiung" und/oder "Okkupation" gehört in die Kategorie ideologischer Stellvertreterkrieg.

Was nun den Gegenstand der Auseinandersetzung betrifft, existieren in der Beurteilung des Charakters des Kriegsendes in der Tat diametral entgegengesetzte Meinungen. Laut der ersten bedeutete der Einmarsch der Roten Armee, welche der deutschen Okkupation und der Herrschaft der Pfeilkreuzler um den "Führer der Nation" Ferenc Szálasi ein Ende bereitet hatte, eine definitive Befreiung für das Land und gehört deswegen zu den erfreulichsten Ereignissen der ungarischen Geschichte. Nach der anderen Auffassung, die seit der Wende immer mehr zu dominieren scheint, brachte die Rote Armee auf ihren Bajonetten höchstens für die bedrohten Juden eine Rettung, ansonsten zeitigte sie den Anfang einer neuen Fremdherrschaft und Diktatur.

Da die Konfrontation in dieser Frage mehrheitlich von Menschen getragen wird, die nur eine indirekte Erfahrung mit dem Frühjahr von 1945 verbindet, lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass die Debatte ebenso alt ist wie die Ereignisse, die sie hervorgerufen haben. Bereits kurz nach dem Kriegsende sprach der demokratische Publizist und Kritiker der Kommunisten aus der linken Bauernpartei István Bibó (1911-1979), Vorbild der demokratischen Opposition, mit erstaunlicher Offenheit über die Rote Armee. Diese war, sagte er, für Ungarn eine Besatzungsarmee, "eine Volksarmee , beteiligt am totalen Krieg, (...) vor allem eine fremde Armee. (...) Sie marschierte ein, wie der siegreiche Nachbar im Allgemeinen dies zu tun pflegt: das Interesse der Bevölkerung unterwarf sie hart den Notwendigkeiten der Kriegsführung." So wurde "das Verhältnis der Besatzungsarmee und der Bevölkerung durch eine schwierige Vorgeschichte belastet..." Diese beschrieb Bibó - wahrscheinlich aufgrund der Zensur der Alliierten - nicht konkret, aber aus dem Kontext war für den zeitgenössischen Leser klar, dass es sich dabei um Willkür, Plünderungen und Gewalt der Besatzer handelte.

Sowjets als Befreier ...

Als Ergebnis des Einmarsches der Sowjets würdigte er das Ende des Vorkriegsregimes, und diese Errungenschaft hielt er für wichtiger als die traurigen Begleitumstände dieser militärischen Operation. "Für Ungarn ist ein Lebensinteresse, dass der Zusammenbruch der Vorkriegswelt Befreiung bleibt bzw. zur Befreiung wird und dass die bedrückenden Faktoren der kranken ungarischen Gesellschaftsstruktur, die mit dem Erscheinen der sowjetischen Armee verschwunden sind (...), nicht zurückkehren. Wir müssen dafür sorgen, dass wenn auch für uns die Tatsache der Befreiung mit den unterschiedlichsten Spielarten des physischen und menschlichen Elends des verlorenen Krieges zusammenhängt, sie für die Enkel zu einer reinen historischen Realität wird (...) und dass die befreiende Leistung der Sowjetarmee in ihrer Bedeutung für die demokratische Entwicklung Ungarns nicht verloren geht."

... und Okkupanten

Leider erwies sich Bibós Vision bald darauf als Wunschdenken. Die kurzlebige Phase der Nachkriegsdemokratie wurde durch die Willkürherrschaft der kp abgelöst, welche wiederum durch den Akt der Befreiung legitimiert werden sollte. Am 4. April fand in Budapest jahrzehntelang eine Militärparade statt, die Bilder des Zusammenbruchs wurden in der offiziellen Erinnerung weitgehend ausgeblendet. Schwieriger wog noch die Tatsache, dass die Befreier nach der Erfüllung ihrer Mission das Territorium des Landes nicht mehr verlassen wollten. Nach dem Pariser Frieden blieben sie zunächst, "um die Kommunikationslinien der Sowjetarmee in Österreich abzusichern". Nach der Verkündung der Neutralität des Nachbarlandes wurde ihre Anwesenheit durch den Warschauer Vertrag begründet und im November 1956 durch die Invasion noch einmal bekräftigt. Über den Abzug der im offiziellen Jargon "provisorisch stationierten" Truppen konnte erst Ende der achtziger Jahre gesprochen werden. Ihre Präsenz war ein immanenter Bestandteil der ungarischen Innenpolitik.

Das komplizierte Geflecht zwischen Befreiung und Okkupation durfte nur durch die zweite Öffentlichkeit der beginnenden achtziger Jahre angesprochen werden. In dem illegal erschienenen "Gedenkbuch für Bibó" formulierte unter anderen die Philosophin Ágnes Erdélyi, eine Ungarin jüdischer Abstammung, den damaligen Stand des Diskurses wie folgt: "Ich und die anderen überlebenden Juden mussten einsehen: Die sowjetischen Soldaten retteten uns vor dem sicheren Tod - sie und sonst niemand. Dieses Erlebnis verband uns nicht mit den anderen, sondern trennte uns vielmehr von ihnen. Die anderen konnten die Tatsache, dass die Befreiung durch die Russen erfolgte, ganz unterschiedlich erleben. Sie konnten sich darüber sogar freuen, aber sie konnten darin eine nationale Tragödie sehen. Sie konnten sich schämen, weil die Befreiung nicht aus eigener Kraft erfolgt war. Die weniger Schamhaften konnten erwägen, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, nicht die Russen, sondern die Briten und die Amerikaner kommen zu sehen. Wir konnten diese Geschichte nur in einer Weise erleben: Wir sind am Leben geblieben, weil die Russen kamen." Wenn man diese Zeilen liest, scheint es, als wäre die Diskussion im Vergleich zu der heutigen viel weiter gekommen.

Im Übrigen endete das Verfahren "Kupper gegen Schiffer" inzwischen mit einem rechtskräftigen Urteil: Der mszp-Politiker ist verpflichtet, seinem Kollegen aus dem fidesz-mpp eine "nicht materielle moralische Entschädigung" von 400 Tausend Forint (1500 Euro) zu zahlen. Wie gesagt, das Verfahren ist abgeschlossen, der Prozess läuft weiter.

Der Autor veröffentlichte zuletzt das Buch "Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes" (C.H.Beck Verlag 2004).

1945 in Europa

Das Jahr 1945 bedeutet in fast jedem europäischen Staat etwas anderes. Während Österreich den Beginn der 2. Republik zelebriert, wissen manche eu-Länder nicht, was sie genau feiern sollen. In den kommenden Monaten bringt das Furche-Feuilleton Beiträge von Schriftstellern und Journalisten über die Gedächtnis-Politik und das Kriegsende im öffentlichen Bewusstsein ihres Landes.

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