Die Ursache liegt in der Zukunft

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Der Deutsche Pavillon des vor einem Jahr verstorbenen Christoph Schlingensief gewann bei der 54. Biennale von Venedig den Goldenen Löwen - als bester Länderpavillon 2011.

Am 21. August 2010 starb ein Unersetzlicher. Seine Entwürfe für den Deutschen Pavillon konnte er nicht mehr verwirklichen. Christoph Schlingensief schwebte ein "Afrikanisches Wellnesszentrum“ mit funktionstüchtigen Bade- und Kuranlagen vor, wobei das Schwimmbad mit gefärbtem Wasser versehen werden sollte, aus welchem die Besucher geschwärzt entstiegen wären. Die Erfahrung, sich selbst mit schwarzer Hautfarbe zu erleben, sollte dem Publikum eine innere "Reinigung“ und eine Verschiebung des Blickwinkels ermöglichen. Im Ausstellungsraum wären darüber hinaus eine Lehmarchitektur und viele Pflanzen gestanden und hätten damit eine exotische Atmosphäre geschaffen, überlagert von Filmprojektionen. An der Fassade sollte eine riesige "Negermaske“ mit sich bewegender, übergroßer Unterlippe in das Ausstellungsgelände der Biennale hinein lachen.

Gemeinsam mit Schlingensiefs Team und seiner Witwe Aino Laberentz entschied sich die Kuratorin Susanne Gaensheimer gegen die Umsetzung dieser und vieler weiterer Ideen für den Pavillon. So reizvoll es gewesen wäre, Schlingensiefs Konzepte zu realisieren, erscheint die Entscheidung dennoch richtig. Die Arbeitsweise des Künstlers war dadurch gekennzeichnet, dass er bis zum letzten Tag seine Vorhaben modifizierte oder auch komplett umstieß. Zu viele künstlerische Fragen waren noch offen, zu viele Folgeentscheidungen hätten getroffen werden müssen. Statt einer Ausstellung von Schlingensief musste es also eine Schau über den Künstler werden.

Germania - Egomania

Christoph Schlingensief nutzte häufig in seinem Werk die künstlerische Praxis der Umbesetzung von Begrifflichkeiten und kollektiven Bildern. Das Gebäude des Deutschen Pavillons, das 1909 erbaut und 1938 von den Nationalsozialisten monumentalisiert wurde, bietet sich dafür geradezu an. So ist der humorvolle kuratorische Einfall, den Schriftzug "GERMANIA“ über dem Eingang des Pavillons zu "EGOMANIA“, dem vielschichtigen Titel eines Filmes von Schlingensief, zu überpinseln, als besonders gelungen zu werten. Mit dieser Intervention gelang es auf spielerische Weise und durchaus im Geiste des Künstlers, den nationalistisch-kollektivierenden Schriftzug in sein Gegenteil - die maximale Individualität - zu verkehren. Im Hauptraum des Pavillons wurde das Bühnenbild aus dem Theaterstück "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (2008) aufgestellt, das die neugotische Herz-Jesu-Kirche von Oberhausen zeigt, in welcher der Künstler zwölf Jahre lang als Messdiener tätig war und in der schließlich die Trauerfeier für ihn stattfinden sollte. Dieser mit etlichen Filmprojektionen versehene Raum kreist um die Hauptthematik von Schlingensiefs Spätwerk, nämlich die Unbegreiflichkeit des Todes und wie man sich dazu verhält. Die visuelle Kraft des als Installation funktionierenden Raumes macht deutlich, dass der Grenzüberschreiter Schlingensief nicht nur ein großartiger Theater- und Filmemacher war, sondern auch als bildender Künstler überzeugt.

Eine Auswahl von sechs Spielfilmen Schlingensiefs wird im rechten Seitenflügel des Pavillons gezeigt, zum Teil erstmalig mit englischer Untertitelung. In ihrer frechen Ästhetik brechen die Filme mit der beklemmenden Atmosphäre des Hauptraumes. Der linke Seitenflügel ist mit vielerlei Dokumentations- und Bildmaterialien Schlingensiefs Herzensprojekt, dem "Operndorf Afrika“, gewidmet. In Burkina Faso entstehen zusätzlich zu einem Festspielhaus, das der Künstler als Begegnungs- und Produktionsstätte für afrikanische und europäische Kunstschaffende konzipierte, eine Schule mit Filmklasse, eine Musikschule und ein Sportplatz, eine Großküche, Unterkünfte sowie eine Krankenstation. Die Schule wird bereits im Herbst 2011 eröffnet. Das im Beuys’schen Sinne als "soziale Plastik“ angelegte Projekt soll eine Plattform für die Entfaltung und Sammlung afrikanischer Kultur hervorbringen, von der europäische Künstler lernen und sich inspirieren lassen können. Dem überstrapazierten Bild des armen, hilfsbedürftigen afrikanischen Kontinents wird durch das Operndorf der kulturelle Reichtum Afrikas gegenübergestellt.

Nie bloß "l’art pour l’art“

Christoph Schlingensief, der immer wieder als infantiler Provokateur missverstanden wurde, war in Wirklichkeit ein zutiefst moralischer Künstler: "… am Ende will ich sicher sein können, dass meine Arbeit einen sozialen Gedanken hat.“ Bewusst positionierte er sich in der Nachfolge von Joseph Beuys, einer omnipräsenten Schlüsselfigur in seinem Werk, und verknüpfte stets, in Weiterführung von dessen Kunstverständnis, seine Arbeiten mit der Lebensrealität und den Menschen um sich herum. Es ging ihm nie um "l’art pour l’art“.

Mit Beuys’ paradox wirkendem Satz "Die Ursache liegt in der Zukunft“, den Schlingensief mehrmals in seinen Arbeiten aufgriff, lässt sich nicht nur das "Operndorf Afrika“ treffend beschreiben. Beuys’ Aussage wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Zukunft, so wie sie in den Vorstellungen der Menschen existiert, direkte Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Schlingensief glaubte nicht an die Eindeutigkeit der Welt und bemühte sich daher, oftmals mit vordergründig widersprüchlich erscheinenden Mitteln, festgefahrene Vorstellungen zu erschüttern und sein Publikum zum Nachdenken anzuregen. Mit seinem Operndorf und mit vielen weiteren Projekten, die überraschende und neuartige Vorstellungen der Zukunft entwerfen, gelang ihm dies. Die Auswirkungen seiner Zukunftsvisionen manifestieren sich etwa im realen Bau in Burkina Faso.

Überbordende Bildsprache

Auch der Deutsche Pavillon ist von Künftigem bestimmt. Auf die Beantwortung der Frage, was von Schlingensiefs Gesamtwerk bleiben wird, nimmt der Pavillon aktiven Einfluss. Bislang war Schlingensief weitgehend nur im deutschsprachigen Raum bekannt. Die preisgekrönte Ausstellung in Venedig macht sein Werk einem internationalen Publikum zugänglich. Ein umfangreicher Katalog, der vielfältige Aspekte von Schlingensiefs Schaffen beleuchtet, und die englische Untertitelung der Filme erleichtern die internationale Rezeption und tragen dazu bei, dass der Künstler endlich auch über die Sprachgrenzen hinaus die verdiente Anerkennung erhält. Seine überbordende Bildsprache wird in ihrer Einzigartigkeit sicherlich als Inspirationsquelle für nachfolgende Künstlergenerationen dienen. Obschon Schlingensief häufig auf aktuelle Geschehnisse reagierte, bleibt er dennoch nicht seiner Zeit verhaftet, zumal er gleichzeitig stets zeitlos-universelle Themen wie Sterben und Tod, Leiden, Fremdbestimmtheit oder Autonomie aufgriff. Sein eindrückliches Werk will gesehen werden! Mit den Worten von Alexander Kluge gesprochen: "Entweder hat Christoph Schlingensief nie gelebt, oder er ist nicht tot.“

Der Autor

Der Schweizer Autor ist Kunsthistoriker und Germanist; er lebt und arbeitet in Wien. Ende August erscheint seine Studie "Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys“ im Peter Lang Verlag.

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