Die Verknappung der Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

Über die Ökonomie der Beschleunigung, die Auslagerung unseres „Mülls“ in die Zukunft und die zunehmende Verengung des Zeithorizonts. Ein Plädoyer für mehr Langsamkeit.

Wir leben heutzutage unter einem strikten Zeitregime. Genau geregelte Arbeitszeit, Freizeit, Schul- und Ausbildungszeit. Genau koordinierte Zeitpläne im Verkehr und in der Produktion. Bei jeder Gelegenheit sind Fristen zu beachten, besonders bei Prüfungen und bei den Krediten. Es verdichtet sich das Netz der zeitlichen Verknüpfungen, der Einzelne fühlt sich in Zeitplänen gefangen, und man ist genötigt, ständig an die Zeit zu denken: wie man sie einsparen kann, ob man sie jemandem schenken darf, wann eine Frist abläuft usw. Unter solchem Zeitdruck verwandelt sich die Zeit in eine Art Gegenstand, der sich teilen, verschenken, verschleudern, sparen, günstig verwerten und verkaufen lässt. Ein Gegenstand eben, der „knapp“ ist.

Der Verbrauch der Zukunft

Die gesellschaftlich bedingte Zeitverknappung wird mächtig angetrieben durch die Logik der kapitalistischen Ökonomie. Kapitalistisches Wirtschaften beruht in mehrerer Hinsicht auf der Ausnutzung von Zeitvorsprüngen, die eine so große Bedeutung haben, dass Karl Marx die bis heute geltende Feststellung treffen konnte, alle Ökonomie sei letztlich zur Zeitökonomie geworden: Die Steigerung der Produktivität schafft Wettbewerbsvorteile, und so entsteht der ökonomische Zwang zur Beschleunigung bei den Produktionsmethoden und beim Wechsel der Produkte. Außerdem wird auch dafür gesorgt, dass sich die „Lebenszeit“ der Produkte verkürzt. Zur Beschleunigungsökonomie gehört deshalb die Wegwerfökonomie. Die Beschleunigung bewirkt die riesige und immer weiter anwachsende Bugwelle des Abfalls. Man könnte sagen, dass die Produktion das, was an ihr Vergangenheit ist – eben den Abfall – nicht nur hinter sich lässt, sondern auch vor sich herschiebt. Unsere Vergangenheit – ihr Abfall – ist auch unsere Zukunft. Dort, in der Zukunft türmen sich nicht nur die Abfälle, sondern auch die Kreditrückzahlungstermine. Kredit ist ein weiterer Faktor der Beschleunigung.

Kredite haben selbstverständlich schon immer zum Geschäft gehört. Die zirkulierenden Kreditmittel basierten bisher auf einer Wertschöpfung, die zum jeweiligen Zeitpunkt bereits geschehen sein musste und deshalb für die Finanzierung weiterer Vorhaben zur Verfügung stand. Jetzt wird, was die Wertschöpfung betrifft, von Vergangenheit auf Zukunft umgestellt, und es werden im großen Stil Kredite ins System eingespeist, die nicht auf einer bereits getätigten Wertschöpfung in der Vergangenheit basieren, sondern auf einer Wertschöpfung, die erst in der Zukunft erwartet wird. Es wird auf die künftige Wertschöpfung gesetzt, die jetzt schon verbraucht und verspekuliert wird. Die zirkulierenden Finanzprodukte, die das Finanzsystem in der jüngsten Krise fast zum Einsturz gebracht hätten, sind ja keine wirklichen Produkte, sie sind keine Wertschöpfung, sondern ein Spinnweb aus Erwartung und Spekulation, sie sind Phantome, Wiedergänger, aber nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft. Man verbraucht die Zukunft – so wie man das ja auch bei der Staatsverschuldung und der Umweltzerstörung tut, die man den Kindern und Enkeln als Müll und offene Rechnungen hinterlässt, die sie dann zu entsorgen und zu bezahlen haben werden. Die Haltung „Verbrauche jetzt, bezahle später“ hat alle Bürger erfasst und einen riesigen Kreditmarkt ermöglicht, wo die Akteure aus Geld, das ihnen nicht gehört und das es vielleicht gar nicht gibt, Geld machen können.

… wie schnell es gehen kann …

Der Zusammenbruch dieser Geschäfte ist im Kern nichts anderes als eine Wertberichtigungskrise. Wie bei einem Ballon, den man ansticht, entweicht die heiße Luft, und man bemerkt, dass es längst nicht so viele Werte gegeben hat, wie im System zirkuliert sind. Man kann Kosten und Risiken räumlich externalisieren (z. B. als Müll in die Dritte Welt) – man kann sie aber auch in die Zukunft auslagern. Und das ist in einem beängstigenden Ausmaß geschehen und geschieht noch. Finanzwirtschaft belastet, ähnlich wie die Atomindustrie, die Allgemeinheit mit dem Problem der Entsorgung. Man richtet finanzielle Mülldeponien ein, sogenannte bad banks, und man kann sicher sein, dass uns die dort gelagerten kontaminierten Produkte ebenso wie der Atommüll noch große Schwierigkeiten bereiten werden.

Bei der Finanzkrise hat sich auch drastisch gezeigt, dass wir in einer Gesellschaft der verschiedenen Geschwindigkeiten leben. Der Zeittakt, in dem Geschäfte in der Finanzwirtschaft abgeschlossen werden, ist extrem schnell und erfordert eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit. Bei den gewöhnlichen Kreditnehmern und Sparern geht es demgegenüber geradezu gemächlich zu. Die einen operieren global im Gedränge dichter Verflechtungen, die anderen in einem lokalen, übersichtlichen Feld; da geht es dann oft um Renten, Eigenheime und andere biografische Sicherheitsnetze. An den Schnittstellen zwischen den Sphären kommt es zu Betriebsunfällen. Der eine wirtschaftet nach alter Gewohnheit, in Treu und Glauben, der Partner aber ist bei irgendwelchen rasenden Geschäften inzwischen aus dem Markt gefegt worden. Ein „Synchronisationsproblem“, konstatieren die Ökonomen und Soziologen kühl. Die da unten haben noch nicht mitbekommen, was da oben läuft, und vor allem: wie schnell es gehen kann. Synchronisationsprobleme kennt man auch sonst aus dem Alltag: Der Zeitgewinn bei einer schnellen ICE-Verbindung geht im Nahverkehr wieder verloren. Synchronisationsprobleme gibt es auch im Verhältnis von technologischer Entwicklung und Ausbildung. Kenntnisse und Qualifikationen veralten immer schneller. Lebenserfahrungen werden entwertet.

Auch die Politik hat oft das Nachsehen, weil sie nicht schnell genug ist. Es wird immer schwieriger, einen stabilen Rahmen für die Wirtschaftstätigkeit und die sozialen Prozesse zu zimmern, trotz der Flut von Gesetzen, die der Entwicklung hinterher geschickt werden. Die Entscheidungen in der Wirtschaft erfolgen schnell, die in der Politik, vor allem wenn sie demokratisch legitimiert sein sollen, langsam. Die Politik gerät unter Zeitdruck, und es gehört einiger Mut dazu, sich für gewisse Entscheidungen von großer Reichweite – Zeit zu lassen. Die allgemeine Beschleunigung, die mehr Zukunft verbraucht, hat die paradoxe Wirkung, dass sie den Zeithorizont verengt. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Probleme von heute, nicht aber auf die von morgen oder gar übermorgen. Die Steigerung der Produktions- und Verbrauchsgeschwindigkeit und die damit verbundene Auslagerung von Risiken in die Zukunft müsste eigentlich kompensiert werden, durch Entschleunigung und eine Tendenz zur Nachhaltigkeit. Aber dazu kommt es in den westlichen Industriestaaten wohl auch deshalb nicht, weil in Gesellschaften mit sinkender biologischer Reproduktionsrate sich die Mentalität von Endverbrauchern ausbreitet, und die haben bekanntlich keine Zeit zu verlieren, denn für sie zählt vor allem die Gegenwart.

„Eigentlich bin ich ganz anders …“

Tatsächlich ist nicht mehr und nicht weniger erforderlich als eine Revolution des gesellschaftlichen Zeitregimes. Dabei wird die Zeit notwendig zu einem politischen Thema. Die politische Klasse hat das noch nicht ganz begriffen. Es hat auch lange genug gedauert, bis man die Natur als Thema der Politik entdeckte. Und so wird es wohl noch ein wenig dauern, bis man bemerkt: Es ist eine politische Machtfrage, die Ökonomie unter das Zeitmaß demokratischer Entscheidungen zu bringen. Ebenso ist es eine politische Machtfrage, ob es der Finanzwirtschaft weiterhin erlaubt bleiben soll, mit der Zukunft so gemeingefährlich zu spekulieren, wie sie das bisher getan hat und noch tut. Es ist eine politische Machtfrage zu entscheiden, welchen Preis an Umweltschäden und Lebensbelastungen wir zu zahlen bereit sind – nur um eine schnellere Fortbewegungsart zu ermöglichen. Es ist eine politische Machtfrage, Lebenszyklen und Arbeitsprozesse zu synchronisieren. Und es ist eine politische Machtfrage, wie viel Zeit wir den Kindern geben und lassen wollen und den Alten und dem Altern.

Ödön von Horváth hat einmal bemerkt: „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.“ Besser kann man das Gefühl des Wirklichkeitsverlustes im gesellschaftlichen Zeitgetriebe nicht zum Ausdruck bringen.

* Der Autor lebt als Philosoph, Buchautor und Essayist in Baden- Württemberg

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung