Die verlorene unterscheidung zwischen gut und böse

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Mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.

Das alles bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, daß die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen, ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall: Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet.

Selbst die Medizin, die auf die Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender für die Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all derer, die sie ausüben.

In einem solchen kulturellen und gesetzlichen Kontext sehen sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen, sozialen oder familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt lasten und eine verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der nationalen und internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und illusorischen Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl der Menschen und der Nationen im Widerspruch stehen.

Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.

Auszug aus "Evangelium vitae" (Nr. 4), Enzyklika von Papst Johannes Paul II.

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