Die verlorenen Kinder Boliviens

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In Bolivien machen Kinderhändler Millionengeschäfte mit dem Verkauf von Kindern. Opferorganisationen schlagen Alarm, doch die Behörden reagieren zu langsam.

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In Bolivien machen Kinderhändler Millionengeschäfte mit dem Verkauf von Kindern. Opferorganisationen schlagen Alarm, doch die Behörden reagieren zu langsam.

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Vieles hat sich in Bolivien in den zurückliegenden Jahren zum Besseren entwickelt: Die Zahlen von Kindern, die unter Armut und extremer Armut leiden, sind heute niedriger als zu Beginn der Regierungszeit von Präsident Evo Morales und seiner MAS-Partei (Movimiento al Socialismo). Sämtliche Elemente des UN-Kinderrechteund Kindesschutz-Systems wurden vom Parlament in La Paz ratifiziert. Und doch breitet sich in dem immer noch ärmsten Land auf dem südamerikanischen Kontinent wie ein Geschwür ein neues Problem aus, das von seiner Dimension her selbst Experten den Atem verschlägt: Die Entführung und der Handel mit Kindern und ihre sexuelle Versklavung.

Man muss schon genau hinsehen, sonst übersieht man sie: kleine, zum Teil handgeschriebene Hinweise auf Busbahnhöfen an die Wand geklebt, eine schlechte Schwarzweiß-Kopie an einer Tür des Flughafens El Alto, ein unscharfes Gesicht, herausvergrößert aus dem Foto einer Schulklasse, inmitten der Pinnwand einer Nichtregierungsorganisation: Die verlorenen Kinder Boliviens haben es schwer, sich im Bewusstsein ihrer Mitmenschen zu halten. Hunderte Mädchen und Buben sind im vergangenen Jahr in La Paz, El Alto, Santa Cruz und Cochabamba verschwunden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Die 14-jährige Viviana aus dem distrito 1 in El Alto ist seit einem Monat verschwunden. Auf dem winzigen Foto, das ihre Mutter in Geschäften und bei Nichtregierungsorganisationen verteilt, schaut das Mädchen ernst und stolz. Um den Hals trägt es eine Schärpe, offenbar von einer Veranstaltung in der Schule. "Es kommt in solchen Fällen auf jeden Tag an", weiß Susana Aillón, die eine Kinderschutzorganisation betreibt.

Export von Kindern

Bolivien hat sich, von der weltweiten Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt, innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten lateinamerikanischen "Exportländer" von Kindern entwickelt. Es sind nicht mehr junge Frauen, die - wie noch vor einigen Jahren -die Hauptzielgruppe für Menschenhändlerbanden bilden, erläutert Susana Aillón, mittlerweile geht es um Kinder und zwar vor allem Mädchen ab fünf Jahren, für die es einen internationalen Markt mit einer offenbar unstillbaren Nachfrage gibt.

Für das Fundación La Paz-Team hat sich der Alptraum "trata" innerhalb von kurzer Zeit zu einem unfreiwilligen und extrem gefährlichen Arbeitsschwerpunkt entwickelt: Ursprünglich konzentrierte sich die Stiftung, die von der Kindernothilfe unterstützt wird, auf das pädagogische und sozialarbeiterische Engagement mit Straßenkindern in der bolivianischen Hauptstadt.

Modellprojekte wie Sarantañani, ein in drei Stufen gegliedertes Rehabilitationsangebot für Buben, die teilweise jahrelang auf der Straße gelebt hatten, oder Oqharikuna, das Pendant für Mädchen und junge Frauen, setzten mit ihren anspruchsvollen Strategien und klug durchdachten Konzepten internationale Standards. "Doch die Problematik der Kinder, die früher tagsüber auf den Straßen und Plätzen von La Paz gelebt und nachts unter Brücken geschlafen haben, ist heute eine andere", erklärt Raúl Velasco, der für Sarantañani verantwortliche Pädagoge.

Rasante Veränderung

Denn auch in der bolivianischen Hauptstadt hat -wie in fast allen lateinamerikanischen Metropolen - in den zurückliegenden Jahren ein atemberaubender Gentrifizierungs-Prozess stattgefunden.

Immobilienspekulanten und Großinvestoren filetierten und veränderten das Stadtbild von La Paz. Die Preise für Wohnungen explodierten. Zehntausende der ärmeren Bewohner verloren ihre Domizile und wurden an die Peripherie der Stadt, vor allem nach El Alto, verdrängt.

Dafür entstanden ganz neue Geschäftsmodelle, sogenannte "telos" (abgekürzt von hotelitos), Billigabsteigen, extrem prekär, extrem schmutzig, in die sich Gruppen von Kindern nachts einmieten können. "Die Kinder sind durch die telos viel verwundbarer geworden", ist sich Raúl Velasco sicher, "hier sind sie unsichtbar -und absolut schutzlos allem ausgeliefert, was man sich an Entsetzlichem vorstellen kann": Drogenhändlern auf der Suche nach neuen Dealern und Kunden, enthemmter Gewalt und sexuellem Missbrauch durch Erwachsene oder ältere Jugendliche, aber auch den in La Paz und El Alto entstandenen Jugendgangs, die nach dem Vorbild der mittelamerikanischen maras mittlerweile ganze Viertel terrorisieren und -ganz oben in dieser perversen Hierarchie -eben jenen kriminellen Organisationen, die sich mit trata, mit Menschenhandel -präziser gesagt -mit Kinderhandel beschäftigen. Weil im Land immer größere Geldmengen zirkulieren, die durch die Kokain-Produktion und den Drogenhandel erwirtschaftet werden, wächst auch die Nachfrage nach Kindern als Sexualobjekten. Einhalt gebietet den Tätern dabei so wie gut wie niemand: Denn diese kriminellen Strukturen sind in der Lage, staatliche Institutionen nach Belieben zu unterwandern, Polizisten, Militärs, Staatsanwälte, Richter, Abgeordnete und Regierungsbeamte zu kaufen.

Ganze zehn Festnahmen gab es im vergangenen Jahr in Bolivien wegen Menschenhandel. Aber in keinem einzigen Fall kam es, wie das nationale Netzwerk gegen trata dokumentiert, zu einer Anklage oder gar einer Verurteilung.

Kaum kontrollierte Grenzen

"Ein ganz besonderes Problem stellen die Lastwagenrouten quer durch Bolivien dar", erläutert Susana Aillón. "Dort, wo Lastwagenfahrer Rast machen, gibt es Alkohol, Koka und kommerzielle sexuelle Gewalt gegen Kinder". Der mächtige Verband der Lastwagenfahrer und -besitzer Boliviens zeigte sich bislang völlig resistent gegenüber jeder Art von Versuch, mit den Organisationen aus dem Netzwerk gegen trata ins Gespräch zu kommen.

Ein Großteil der verschwundenen Kinder wird von ihren Peinigern über kurz oder lang ins Ausland geschafft. Die Routen führen über Brasilien, Argentinien, Paraguay, Peru und Chile. Allein über 700 Kilometer erstreckt sich die "grüne" Grenze zu Paraguay oder Brasilien und wird praktisch nicht kontrolliert.

Immerhin: Ende Juli unterzeichnete ein Richter Haftbefehle gegen mehrere Beamte, die unter dringendem Verdacht stehen, die Verschleppung von über 60 Kindern und Jugendlichen mit dem Ziel der sexuellen Versklavung mitermöglicht zu haben. Der Polizei gelang es jedoch nur, lediglich drei der Mädchen noch auf bolivianischem Territorium zu befreien.

Dokumentiert sind auch Fälle, in denen sich die Spur in Europa, den Golfstaaten oder gar China verliert. "Wir mussten lernen, dass sich immer wieder auch Ärzte für diese Geschäfte hergeben", berichtet Susana Aillón, "und wir wissen natürlich auch, dass Kinder teilweise deswegen nach Europa geschafft werden, um ihnen ihre Organe zu stehlen." Bei alledem geht es um gigantische Gewinne für die kriminellen Netzwerke, die hinter den Entführungen stehen: Die Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) errechnete Ende 2012, dass mit der trata allein in Lateinamerika jährlich 6,6 Milliarden US-Dollar verdient werden. Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, habe sich, so Experten des Staatenbündnisses, nach Waffen-und Drogenhandel zum drittprofitabelsten Geschäftsfeld weltweit entwickelt.

Ganz selten finden einzelne Mädchen und Buben einen Weg zurück. Die Fundación La Paz behandelt die Opfer in drei therapeutischen Zentren. "Das ist wie eine ganz mühsame Wiederaufbauarbeit -nach der vorausgegangenen, fast völligen Zerstörung", beschreibt Gisela Campo, die Projektverantwortliche dieses Teils der Fundación La Paz-Arbeit, ihre Aufgabe.

Und dann gibt es noch RI-BUTRA -el rincón del buen trato, den Ort des Guten-Miteinander-Umgehens. RIBUTRA ist das erfolgreiche, seit Jahren erprobte Gewalt-Präventionsprojekt der Fundación La Paz mit Kindern und Jugendlichen, das mittlerweile Tausende von Mädchen und Buben aus der bolivianischen Hauptstadt kennen -und das in dieser David-gegen-Goliath-Auseinandersetzung gegen die kommerzielle sexuelle Gewalt und das Krebsgeschwür der trata eine unverzichtbare Rolle spielt.

Einflussreiche Netzwerke

Darüber, dass sie von ihren ärgsten Feinden nicht gebührend wahrgenommen würden, können sich Susana Aillón und ihre Kollegen von der Fundación La Paz nicht beschweren.

Ihr jüngstes Buch mit einer Untersuchung über kommerzielle sexuelle Gewalt und den Menschenhandel mit Kindern als Opfer -Existimos Sin Existir (Wir existieren, ohne zu sein) - war noch nicht aus der Druckerpresse, als sich im Sitz der Fundación elegant gekleidete Individuen vorstellten, die unbedingt die Publikation, die zu diesem Zeit noch nirgendwo angekündigt war, kaufen wollten. Und aus dem Innenministerium erreichte Jorge Domic zeitgleich das Schreiben eines ranghohen Beamten, der die Fundación in harschem Ton aufforderte, alle ihre Quellen und Kontakte rund um die Recherchen zu diesem Buch offenzulegen und eben diesem Beamten zugänglich zu machen. "Als wir uns diskret im Ministerium erkundigten, wie wir mit dieser Aufforderung umgehen sollten", erinnert sich Domic, "rieten uns mehrere Mitarbeiter, die unsere Arbeit kennen, dringend, diesem Mann nichts, aber auch gar nichts von unseren Informationen preiszugeben."

Der Autor ist Leiter des Referates für Lateinamerika und die Karibik

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