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Die Wüste als Ort, wo das Verschwinden sichtbar wird: Don deLillos neuer Roman „Der Omega-Punkt“ nimmt Raum und Zeit unter die Lupe.

Ein Roman über die Zeit? Aber die gibt es doch eigentlich nicht, jedenfalls nicht im Singular und nicht ohne Erfahrung. Eine Zeit in der Stadt ist eine andere als eine Zeit in der Wüste, die Zeit, die man im Kino verbringt, vergeht anders, als die Zeit, in der man auf eine wichtige Entscheidung wartet, die Zeit während einer Folterung ist eine andere als die Zeit während eines Kusses.

Einen unheimlich dichten Roman über Zeiterfahrungen schrieb Don DeLillo mit seinem neuesten Werk „Der Omega-Punkt“. Hitchcocks berühmter Thriller „Psycho“ wurde in einer Video-Installation im New Yorker Museum of Modern Art so verlangsamt abgespielt, dass er 24 Stunden dauerte. Diese Slow-Motion-Aufführung inspirierte den amerikanischen Autor. Was passiert, wenn ein Film in einer derartigen Zeitlupe abgespielt wird? Er verliert die Spannung und der Horror wird unsichtbar. Dafür kommen Dinge in den Blick, die ein Zuschauer sonst niemals wahrnehmen könnte.

In diesem Raum der mysteriösen Rahmenhandlung des Romans steht ein Anonymer, der diesen Film seit Tagen betrachtet – und die Menschen, die diesen Film betrachten. Drei von ihnen werden im Roman eine Rolle spielen. Der Ich-Erzähler, Filmemacher Jim Finley, sucht Richard Elster auf, der sich mit seiner Tochter in die Wüste zurückgezogen hat und den das Pentagon einst als Intellektuellen beschäftigt hat, um den Blickwinkel zu weiten. „Aber in jenen Räumen mit jenen Männern ging es nur um Prioritäten, Statistiken, Evaluationen, Rationalisierungen.“

Finley möchte einen Film mit ihm drehen: Authentisch soll er sein, unbearbeitet, ungeschnitten, Elster sprechen lassen. Dieser aber weiß, so etwas wäre eine Art öffentliche Beichte. Mit Gesprächen über die Zeit vergeht die Zeit in der Wüste, die auch auf den Ich-Erzähler einwirkt: Denn hier wird die Zeit „blind“, kann man die Landschaft bald mehr spüren als sehen. Die Wüste als paradoxer Ort: Verschwinden wird sichtbar.

Was eben noch Thema metaphysischer Gespräche war, etwa die Lektüre von Teilhard de Chardin, wird plötzlich konkrete Erfahrung von Vergänglichkeit und Verlust, der nicht zu ertragen ist. „All die großartigen Themen dieses Mannes zusammengetrichtert auf umgrenzten Kummer, einen Körper da draußen irgendwo oder auch nicht.“ Die Tochter ist verschwunden.

Verborgene Spannung

DeLillos Roman ist voll Spannung, diese aber bleibt kunstvoll verborgen – wie in der Zeitlupenfassung von Hitchcocks Thriller, der sich auch motivisch in den Roman webt. Fragen der Ästhetik erweisen sich als immens politisch. Je abstrakter das Reden von Flüchtigkeit und Strategien, desto hilfreicher für die Kriegsführung. Auch die Vorstellung von Zeit ist politisch – und räumlich, was etwa deutlich wird, wenn sich eine Nation wie Amerika nach 9/11 die Zukunft zurückholen will oder (wie jene unter Bush) zurücksehnt in die Zeit des Kalten Krieges, in eine Zeit der klaren Territorien und Grenzen: in den geschlossenen Raum.

Der schmale, aber dichte Roman lädt zu einer Zeiterfahrung ein, die Leser kennen: langsam lesen, noch einmal lesen.

Der Omega-Punkt

Roman von Don DeLillo Aus dem amerikan. Englisch von Frank Heibert Kiepenheuer & Witsch 2010. 110 S., geb., e 17,50

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