Die Welt kontern: im Entschwinden

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Am 1. November 1921 wurde Ilse Aichinger geboren. Ihr Roman "Die größere Hoffnung“ blieb in der deutschsprachigen Literatur absolut singulär.

Nicht die Ideologie der Gedenkkultur, sondern das Kindergesicht der Erinnerung schaut uns aus Ilse Aichingers Werk heraus an. So war es bereits in ihrem ersten und einzigen Roman, dem 1948 veröffentlichten Buch "Die größere Hoffnung“, dem dieser spezielle Blick etwas ungeheuerlich Fragiles, Unfertiges und letztlich auch Zartes verleiht. In der deutschsprachigen Literatur blieb dieses Buch absolut singulär: Das Überleben des Nationalsozialismus stellt sich hier als ein Kinderspiel dar.

Das Kapitel "Der Kai“ beispielsweise spielt genau dort, wo die Autorin gemeinsam mit ihrer Mutter in einer Wohnung einquartiert war und so in unmittelbarer Nachbarschaft des Gestapo-Hauptquartiers überlebte; Ilses Zwillingsschwester Helga entkam mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Das Textstück beginnt damit, dass die Hauptfigur des Buches, das Mischlingskind Ellen, zu den am Wasser spielenden Kindern stößt. Mehrmals insistiert das Mädchen darauf, mitspielen zu wollen. Die Antwortet aber lautet: "Wir spielen gar nicht!“ Auf die Frage, was sie denn tun, wenn nicht spielen, bekommt Ellen zu hören: "Wir warten, dass hier in der Gegend ein Kind ertrinkt.“

Das real ertrinkende Kind hätten die spielenden Kinder nötig, um es - wie sie glauben - beim Bürgermeister der Stadt gegen ihre "falschen“ Großeltern einzutauschen. Alle, die das Buch gelesen haben, wissen, was es bedeutet, dass die jüdischen Kinder des Romans die "falschen“ Großeltern haben. Durch die Rettung eines Menschenlebens würde sich der lebensbedrohende Makel wohl beseitigen lassen. Eben das ist eine der vielen Hoffnungen, von denen "Die größere Hoffnung“ lebt.

Trügerische Hoffnung

Rechtzeitig zum 90. Geburtstag Ilse Aichingers am 1. November ist jetzt in der Edition Korrespondenzen ein Band mit gesammelten Interviews erschienen ("Es muss gar nichts bleiben“). Auf den Punkt, an den hin sich für die Autorin die größte Hoffnung kristallisiert hat, kommt sie darin wiederholt zu sprechen. Es war der Moment, als sie ihre Großmutter in einen Viehwagen eingepfercht sah. Das war auf der Schwedenbrücke in Wien und das Mädchen umgeben von Leuten, die dem Abtransport mit einem gewissen Vergnügen zusahen. Erträglich wurde der Moment allein dadurch, dass die Autorin sich sicher war, dass die Großmutter eines Tages zurückkommen wird. Eine trügerische Hoffnung, wie sich nach dem Krieg rasch herausgestellt hat. Im Frieden dann, so Aichinger in dem Gespräch weiter, war alles noch viel schlimmer: "Die Leute sind an einem vorbeigeschossen.“

Ein Innehalten und - ein Lieblingsausdruck der Autorin - "Kontern“ jener schnellen und schnell selbstvergessenen Welt ist die Literatur Ilse Aichingers. Auch die berühmte "Spiegelgeschichte“, mit der sie im Jahr 1952 den Preis der Gruppe 47 gewann, verdankt sich einer solchen Verzögerung. Jemand habe ihr, so sagt die Autorin in einem der Gespräche, in einer deutschen Stadt ein Haus gezeigt und ihr gesagt, dass darin eine Frau an einer Abtreibung gestorben sei. Zwei Jahre habe sie gebraucht, um die gegen die Zeitachse geschriebene Erzählung zu beenden, in der die allerersten Menschenjahre als letzte erscheinen, und die ersten Monate des Lebens ausschauen wie das vorweggenommene Sterben: "Das Schwerste bleibt es doch, das Sprechen zu vergessen und das Gehen zu verlernen, hilflos zu stammeln und auf dem Boden zu kriechen.“

Schlagend sind die Antworten, die Aichinger den oft dümmlichen Fragen gibt. In einen FAZ-Fragebogen trägt sie im Jahr 1993 unter der Rubrik "Was ist für sie das größte Unglück?“ schlicht "die Genesis“ ein. Einige Jahre später will ein besonders eifriger Reporter wissen, warum die Autorin jetzt ganze Halbtage im Kino verbringt und dabei immer wieder die gleichen Filmen sieht. "Was schätzen Sie an Orson Welles?“ Darauf Aichinger nach einer langen Pause, die den Fragenden schier zur Verzweiflung bringt: "Seine Pranke.“

Zynismen und Verluste

Pranken sind auf die Autorin oft niedergefahren. Das begann schon in jungen Jahren, als die Familie noch in Linz lebte und der Vater, ein manischer Büchernarr, von der Mutter vor die Entscheidung gestellt wurde, wir oder die Bücher? Die Entscheidung für Letzteres, dem das gesamte Familien-Geld geopfert wurde, fiel ansatzlos. Die Mutter ging daraufhin mit den beiden Zwillingsschwestern nach Wien und fristet dort ihre zusehends eingeschränkte Daseinsmöglichkeit als praktische Ärztin. Nach dem Krieg erntete sie von offiziellen Stellen wie dem Wiener Wohnungsamt auf die Frage, wo man denn jetzt wohnen solle, nur Zynismen.

Von Inge Aicher-Scholl, der ältesten Schwester der Geschwister Scholl, wurde Ilse Aichinger Anfang der 50er-Jahre an die Hochschule für Gestaltung in Ulm geholt. Bei einer Tagung der Gruppe 47 (in ihren Gesprächen sagt die Autorin, dass sie die tragenden Herren vor allem lustig fand) lernte sie Günter Eich kennen, mit dem sie bis zu seinem Tod im Jahr 1972 erst in Deutschland und dann im Salzburger Großgmain lebte. Der gemeinsam Sohn Clemens Eich, gerade dabei, sich als Schriftsteller zu etablieren, starb nach einem tragischen Unfall 1998.

Ende der 80er-Jahre übersiedelte Ilse Aichinger nach Wien, ihre literarische Produktion kam in weiterer Folge fast vollständig zum Erliegen. Eine Wendung aus dem frühen Sammelband "Schlechte Wörter“ deutete diese Entwicklung bereits an. Die besten Wörter, so Aichinger, stünden ihr nicht mehr zur Verfügung, sondern eben nur noch die zweit- oder drittbesten. Ausgehend davon entwickelte die Autorin ein Programm der literarischen Reduktion und setzte es noch viel radikaler um als der wesensverwandte Samuel Beckett.

In Wien, wo Ilse Aichinger bis heute lebt, erfolgte einige Jahre später dann doch noch der Durchbruch zu einer neuen und anderen Art des Schreibens. Unter dem Einfluss des dann ebenfalls tragisch verunglückten Literaturkritikers Richard Reichensperger, ihres ständigen Begleiters in dieser Stadt, begann die Autorin regelmäßig Kolumnen erst für den Standard und später für Die Presse zu schreiben. Auch in diesen Texten, versammelt in den beiden Bänden "Film und Verhängnis“ (2001) und "Unglaubwürdige Reisen“ (2005), hüllt die Erinnerung sich in ein Kindergesicht: An Orten, die die Autorin gesehen hat und die aus dem Text heraus nicht allein sie, sondern auch uns anschauen, gleichwohl wie in den dunklen Räumen des Kinos, in die hinein die Autorin entschwindet.

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