Die Werkbank der Welt im Zwangsurlaub

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Die Finanzkrise ist dort angekommen, wo die Weltwirtschaft am meisten boomte: In China werden Hunderttausende Wanderarbeiter entlassen - der soziale Friede ist in Gefahr.

Ein kalter Wind weht über den Vorplatz des Ostbahnhofs der Industriestadt Dongguan. Cheng Yi und ihre zwei Kolleginnen haben ihre Koffer und Taschen abgestellt. Vor dem Bahnhofseingang warten sie fröstelnd auf Freundinnen aus ihrem Heimatdorf in der Provinz Sichuan. Heute endet für die jungen Wanderarbeiterinnen unfreiwillig ein zweijähriger Aufenthalt in der bisherigen Boomprovinz Guangdong. "Wir haben unsere Arbeit verloren", klagt die 20-jährige Cheng. "Wir haben in einer Elektronikfabrik Fernbedienungen für Fernseher hergestellt. Doch jetzt wurden wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise plötzlich 150 der 300 Mitarbeiter beurlaubt."

Dieser "Urlaub" ist unbezahlt und unbefristet. "Uns wurde gesagt, nach dem chinesischen Neujahrsfest Ende Januar könnten wir einen Anruf bekommen, dass wir wiederkommen sollen", sagt Cheng. Bis dahin sind es noch zwei Monate. Auf die Frage, was sie jetzt in ihrem Heimatdorf machen werden, lacht sie im Chor mit ihren zwei Freundinnen: "Landwirtschaft?!" Die in der Stadt heimisch gewordenen Frauen können sich nicht mehr vorstellen, auf den Äckern zu arbeiten: "In unserem Dorf mit tausend Bewohnern leben nur noch Alte und Kleinkinder, alle anderen sind zum Arbeiten weggezogen!"

Wie Cheng und ihre Kolleginnen verlieren momentan täglich zehntausende Wanderarbeiter im Perlflussdelta ihre Jobs. Weil die Lebenshaltungskosten dort viel höher sind als in ihren Heimatdörfern, ziehen sie erstmal dorthin zurück. Oft kommt es vorher zum Streit um Abfindungen. "Die Wanderarbeiter haben Anspruch auf eine Abfindung von einem Monatsgehalt, hinzu kommt die einmonatige Kündigungsfrist, es geht also um zwei Gehälter", sagt die Sozialarbeiterin und unabhängige Gewerkschaftsaktivistin Da Meng (Name geändert, Anm.). Sie klärt Wanderarbeiter über ihre Rechte auf und ermuntert sie zu kämpfen. "Meist werden Abfindungen nicht gezahlt, oft nicht einmal ausstehende Löhne", sagt Da. Doch die Wanderarbeiter ziehen oft ohne Arbeitskampf schnell weiter. Um Proteste zu vermeiden, würden die Behörden gelegentlich sogar Abfindungen zahlen, sagt Da. Meistens aber werden Gesetzesverstöße der Firmen geduldet. Da ist stolz, dass kürzlich hundert von ihr betreute Arbeiter mit einem Sitzstreik die ihnen zustehenden Abfindungen erkämpfen konnten.

Willkommene "Marktbereinigung"

Von Januar bis September 2008 schlossen allein in Guangdong 50.000 kleine und mittlere Unternehmen. Gestiegene Lohn- und Energiekosten und die Aufwertung der chinesischen Währung sorgten schon vor dem Durchschlagen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise dafür, dass viele Firmen zusperrten. Das war nicht unwillkommen. Guangdongs Provinzregierung möchte, dass ihre Industrie eine höhere Stufe der Wertschöpfung erreicht. Sie setzt auf High Tech statt Billigproduktion. Letztere soll in Randregionen der Provinz abziehen, in Chinas Inlandsprovinzen oder ganz schließen.

Auch Dongguan, das Zentrum der exportorientierten Billigproduktion, feilt an einem neuen Image. Die durch die Arbeit von Millionen Migranten zu Reichtum gekommene Stadt, in der dreimal mehr Wanderarbeiter als Einheimische leben, hat sich in den letzten Jahren radikal modernisiert. Inzwischen preist sich die Industriestadt auf ihrer Homepage als "internationale Gartenstadt". Die zehnspurige Hauptstraße durch das Zentrum zieren Palmen. Am zentralen Platz stehen imposante Regierungsgebäude. Die Stadt hat ein modernes Theater, eine neue Stadtbibliothek, dutzende elegante Appartmenttürme, daneben gibt es Händler von Land Rovern, Jaguar und anderen Luxusautos sowie Filialen von Wal Mart und Metro. Aus dem begrünten Zentrum wurden die meisten Fabriken in Industriezonen am Stadtrand umgesiedelt.

Arbeitskampf macht vor Polizei nicht Halt

Mit der Krise in den USA und Europa sind alle exportabhängigen Betriebe gefährdet. Der Chef des Hongkonger Industrieverbandes schätzte kürzlich, dass ein Viertel der im Hongkonger Besitz befindlichen Betriebe im Perlflussdelta wegen der Krise schließen werden. Hongkonger Firmen sind in der Region die größten Investoren.

Am schwersten sind kleine chinesische Firmen mit wenig Eigenkapital betroffen. Doch es traf bereits auch größere. Mitte Oktober kam es in Dongguan zu ersten Protesten, als eine Hongkonger Spielzeugfirma 7000 Arbeiter entließ. Sie hatten bisher Spielzeug für Mattel und Hasbro fabriziert. Ende November verwüsteten entlassene Arbeiter in Dongguan beim Streit über Abfindungen Büros und warfen Polizeiautos um.

Offizielle Zahlen über die momentane Entlassungswelle gibt es nicht. Doch die Lage ist ernst. Mitte November reiste Ministerpräsident Wen Jiabao nach Shenzhen. Er appellierte an die Arbeiter, friedlich zu bleiben, forderte von den Behörden angemessene Reaktionen und von den Firmen den Verzicht auf Entlassungen. Seine Regierung verkündete ein Konjunkturprogramm von umgerechnet 460 Milliarden Euro. Der Binnenmarkt soll durch Infrastrukturinvestitionen belebt und Chinas Exportabhängigkeit reduziert werden. Dennoch geht die Weltbank in ihrer jüngsten Prognose für China 2009 nur noch von einem Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent aus (2007: 11,9 Prozent) -für China der niedrigste Wert seit 1990. Vor allem liegt er unterhalb der magischen Grenze von 8 Prozent, die für die soziale Stabilität für nötig befunden wird.

"Die Arbeiter sind wütend," sagt Xiao Qiang. "Sie haben keine Fehler gemacht, doch jetzt fürchten sie Entlassungen." Der 28-Jährige aus der Provinz Hubei ist seit einem halben Jahr Wachmann in einer Sojasaucenfabrik in Dongguan und leitet dort ohne Wissen der Firmenleitung eine unabhängige Gewerkschaftszelle. "Als Wachmann, der die Arbeiter beim Verlassen der Fabrik kontrollieren muss, bekomme ich deren Stimmung und Probleme direkt mit," sagt Xiao. Er arbeitet seit sechs Jahren in Guangdong, meist in der Bekleidungsindustrie, doch sind ihm dort die vielen Überstunden inzwischen zu anstrengend. Der Job als Wachmann ist wegen der vielen Kontaktmöglichkeiten besser zur Beratung und Organisation der Wanderarbeiter. "Die Firmen drängen die Wanderarbeiter jetzt mit dem Versprechen auf einen anderen Job selbst zu kündigen und umgehen so vorgeschriebene Abfindungen", klagt Xiao. In seiner Fabrik mit tausend Mitarbeitern gebe es bisher keine Massenentlassungen, doch würden täglich kleine Gruppen von Wanderarbeitern ihre Jobs verlieren.

Xiao ist so wie die Sozialarbeiterin Da auf die offizielle, von der Kommunistischen Partei kontrollierte Gewerkschaft nicht gut zu sprechen. "In den Fabriken sind die Gewerkschaftsführer meist mit der Firmenleitung identisch", sagt Da. "Deshalb setzen sie sich nicht für die Arbeiter ein." Letzteres bestreitet Chen Weiguang. Er ist der Gewerkschaftsboss in der Provinzhauptstadt Guangzhou. 2,3 Millionen der 4 Millionen Arbeiter der Stadt sind in seiner Gewerkschaft organisiert, darunter die der Staatsbetriebe, aber auch eine halbe Million Wanderarbeiter. Der 56-jährige frühere Chemiearbeiter sitzt seit 2002 auch im Volkskongress der Stadt. "Es ist heikel, wenn die Gewerkschaften in den Betrieben von den Firmenchefs geführt werden", räumt Chen ein. Deshalb sei dies auch verboten worden. Doch es würde noch etwa drei Jahre dauern, bis das umgesetzt sei.

Vom Mindestlohn kann niemand leben

Zahlen über entlassene Arbeiter kann auch Guangzhous Gewerkschaftsboss nicht nennen. Er sagt nur, die Lage sei dort nicht so schlimm wie in Dongguan, weil Guangzhou früher mit Reformen begonnen habe. Dass unrentable Klitschen jetzt schließen würden, bedauere er nicht. "In manchen dieser Fabriken sind die Arbeitsbedingungen wirklich schlimm", sagt Chen. "Wir wollen nicht unbedingt, dass diese Betriebe überleben. Das tut momentan weh, aber daran führt kein Weg vorbei."

Bedauerlicher findet Chen, dass bereits beschlossen wurde, 2009 den Mindestlohn wegen der aktuellen Krise nicht weiter zu erhöhen. In diesem Jahr war er gegenüber 2007 um zehn Prozent auf umgerechnet 100 Euro erhöht worden. 90 Prozent der Betriebe würden sich an den Mindestlohn halten, sagt Chen. Die anderen bekämen Probleme mit den Behörden, behauptet er. Die unabhängigen Aktivisten Xiao und Da sagen, der Mindestlohn reiche nur mit vielen Überstunden überhaupt zum Überleben.

Einig sind sich alle Beobachter, dass das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise für die Volksrepublik erst nach dem chinesischen Neujahrsfest im Februar sichtbar wird. Erst wenn der übliche Urlaub vorbei sei, werde deutlich, wie viele Chinesen in ihre Jobs zurückkehrten. Dies gilt auch für Cheng Yi und ihre Kolleginnen auf dem Platz vor Dongguans Ostbahnhof. Auf die Frage, ob sie denn wirklich mit einem Anruf ihrer bisherigen Firma rechne, druckst Cheng herum. Dann sagt sie, wie um sich Mut zu machen: "Ich habe meine Handynummer hinterlassen."

* Der Autor ist Asien-Korrespondent der "taz"

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