"Die Wiener sind ein verdächtiges Gesindel"

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Marie Jahoda, die Autorin der klassischen Forschungsarbeit über "Die Arbeitslosen von Marienthal", schrieb ein faszinierendes Erinnerungsbuch.

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Marie Jahoda, die Autorin der klassischen Forschungsarbeit über "Die Arbeitslosen von Marienthal", schrieb ein faszinierendes Erinnerungsbuch.

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Marie Jahoda, die neunzigjährige Grande Dame der Sozialforschung und Autorin der weltberühmten soziologischen Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal", lebt seit langem in Enland. Auf Kurzbesuch in Wien nahm sie dieser Tage den "Bruno-Kreisky-Preis 1997 für das politische Buch" in Empfang.

Für ihre Enkelkinder hat sie Anekdoten aus ihrem Leben aufgeschrieben, die nun als Buch erschienen. Darin spiegelt sich das ganze Jahrhundert mit seinen Brüchen. Als Kind kannte sie Karl Kraus persönlich und im hohen Alter gehörte sie einem Gremium von Wissenschaftlern über die Gefahren der Gentechnik an.

Marie Jahoda stammt aus einer gebildeten Wiener jüdischen Familie und wuchs hier "zu einer Zeit auf, wo es ein wirkliches Zentrum der politischen und geistigen Kultur war." Ihre Privatlehrerin hielt sie für hübsch, aber dumm und verkündete das auch lautstark. Sie entwickelte sehr früh das Gefühl des Andersseins.

Bei den Pfadfindern störte sie die "bürgerliche Einstellung und die Geschlechtertrennung", daher trat sie mit ihrem Bruder Edi in die sozialistische Jugendbewegung ein. Bald war sie Vorsitzende im Verein Sozialistischer Mittelschüler, der ein paar Jahre zuvor von Paul Lazarsfeld - ihrem späteren Forschungskollegen, Ehemann und Vater ihrer Tochter - gegründet worden war. Diese Jahre bezeichnet sie als richtungsweisend für ihr ganzes Leben. "Ich war so überzeugt, daß meine Generation die Generation der Verwirklichung des demokratischen Sozialismus und ich sozialistische Erziehungsministerin sein werde", erinnert sie sich an ihre Illusionen als treibende Kraft zum Studium.

Nach der Ausbildung als Lehrerin nach den Methoden der Schulreformbewegung (dort ist "Karli" Popper ihr Kollege) studiert sie Psychologie bei Charlotte und Karl Bühler und ist intensiv politisch aktiv: "Die Ideen und die fundamentalen Werte des Austromarxismus haben für mich die Funktion gehabt, die Religion für andere Menschen hat." Die unglückliche Ehe mit Paul Lazarsfeld, der "zur Monogamie nicht geboren war", kompensiert sie mit beruflichem Eifer. Als Assistentin im Berufsberatungszentrum der Stadt Wien erhält ihr idealistisches Weltbild erste Schrammen, als ein Vierzehnjähriger schreibt: "Erfolg ist, wenn ... ich groß bin und eine reiche Frau heirate und sie stirbt und läßt mir all ihr Geld."

Noch während des Studiums wird Marie Jahoda Mutter. Sie erinnert sich daran, daß ihr um vieles älterer Ehemann zwar untreu, aber ein hingebungsvoller Vater gewesen ist. Neben dem Kleinkind schreibt sie ihre Dissertation.

Nach der Promotion beginnt sofort die Arbeit an der Studie über die Arbeitslosen von Marienthal, die in diesem Erinnerungsbuch nur am Rande vorkommt. Wenige Exemplare wurden 1933 in Leipzig gedruckt, doch das Buch wurde zu einem klassischen Werk der Sozialforschung. Marie Jahoda und ihre Kollegen waren die ersten Wissenschaftler, welche die psychischen und sozialen Folgen lang andauernder Arbeitslosigkeit untersuchten und feststellten, daß Arbeitslose keineswegs nur materielle Not, sondern mehr noch unter dem Entzug ihres Lebensinhalts und unter einem drückenden Gefühl von Sinnlosigkeit leiden. Die Arbeit ist heute aktueller als je zuvor.

Die politischen Ereignisse überstürzten sich 1933, sie rennt bei der letzten Mai-Demonstration, die von berittener Polizei aufgelöst wird, um ihr Leben, wird Mitglied der kleinen illegalen politischen Gruppe "Funke", wird denunziert und 1936 verhaftet. Eine englische Kollegin interveniert persönlich bei Bundeskanzler Schuschnigg: Sie werde dringend in England für wissenschaftliche Arbeiten gebraucht. Sie muß auf ihre Staatsbürgerschaft verzichten und Österreich sofort verlassen. Zurück bleibt die kleine Tochter, die sie sieben Jahre nicht mehr sieht - was ihr lebenslange Schuldgefühle beschert.

In England nimmt sie ihre wissenschaftliche und politische Arbeit wieder auf und erlebt erstmals den unkorrekten Umgang mit soziologischen Forschungsresultaten. Passen die Umfrageergebnisse nicht ins politische Konzept, bittet das Ministerium, sie zu "glätten".

Die Kündigung ist für Marie Jahoda eine logische Konsequenz. Sie beginnt für den geheimen Rundfunksender "Radio Rotes Wien" zu arbeiten, der im Krieg Informationen nach Deutschland ausstrahlt. Sie hilft unermüdlich, wo immer sie kann. Jüdische Kinder müssen versorgt, Einreisevisa besorgt, mittellose Flüchtlinge betreut werden.

Immer lebensnah Nach dem Krieg geht Marie Jahoda nach Amerika, wo sie ihre glänzende wissenschaftliche Karriere fortsetzt. Hier findet sie "großartige Bedingungen für Sozialwissenschaftler", aber auch die "Einstellung, daß Geld alles ist, und die Abwesenheit von sozialem Denken, geschweige denn Idealen."

Über Wien und die österreichische Sozialdemokratie findet sie kritische Worte: "Die Wiener sind ein verdächtiges Gesindel. Sie machen den schrecklichen Versuch, die Gemütlichkeit als ihre Haupteigenschaft darzustellen ... Und obwohl die Sozialdemokratie zu meiner Zeit eine wirklich großartige kulturelle Einrichtung war, gibt es im Augenblick unter Sozialdemokraten genauso viel Korruption wie unter den anderen."

Daß die Studie über die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit bis heute als bahnbrechend gilt, führt sie auf ihren Anspruch als Wissenschaftlerin zurück, immer lebensnah zu bleiben und nicht über fiktive Probleme zu arbeiten. Während Paul Lazarsfeld die statistische Belegbarkeit der Marienthal-Forschungsergebnisse rühmte, hält Marie Jahoda die Vielseitigkeit der Methoden für das Beste an der Studie, die sie im Team (mit Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel) erarbeitet, aber allein verfaßte.

Marie Jahoda lebt nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes, des britischen Labour-Abgeordneten Austen Albu, in England. Hochbetagt, aber stets engagiert für Gerechtigkeit, am politischen Geschehen noch immer interessiert, meint sie heute: "Die sozialen Theorien vom Marxismus auf und ab eignen sich nicht zur Anwendung. Und ich glaube, daß man keine neue große soziale Theorie braucht, keinen Lenin, keinen Marx, keinen Hitler ..." Vielmehr gehe es darum, grundsätzliche Gegensätzlichkeiten im Leben der Menschen zu akzeptieren, die sie - den Cambridge-Professor, Philosophen und Literaturkritiker George Steiner zitierend - so zusammenfaßt: Jung und alt, weiblich und männlich, Leben und Tod, Individuum und Gesellschaft, Natürliches und Übernatürliches. Mit diesen jedes Menschenleben bestimmenden Gegensätzlichkeiten gehen, so Marie Jahoda, "unterschiedliche Gesellschaften nun einmal auf verschiedene Art um. Und wie man kollektives Interesse mit individueller Selbstbestimmung vereinigen kann, ist, glaube ich, in der Praxis ein noch ungelöstes Problem."

Ich habe die Welt nicht verändert. Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Von Marie Jahoda. Herausgeber: Steffani Engler und Brigitte Hasenjürgen Campus Verlag, Frankfurt/M. 1997 200 Seiten, geb., öS 291,

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