Die Wirklichkeit in Bilder verwandeln

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In ihrem neuen Roman, der seit Wochen die ORF-Bestenliste anführt, beschreibt Sabine Gruber in großartigen Momentaufnahmen, welche Herausforderung es ist, nicht nur "mit dem Krieg, sondern mit dem Frieden fertigzuwerden".

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In ihrem neuen Roman, der seit Wochen die ORF-Bestenliste anführt, beschreibt Sabine Gruber in großartigen Momentaufnahmen, welche Herausforderung es ist, nicht nur "mit dem Krieg, sondern mit dem Frieden fertigzuwerden".

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Daldossi hatte keinen Ort, wo er zu Hause war. Nur sie. In jeder Pore wohnte er. Hatte er gewohnt." Als Bruno Daldossi, der viele Jahre lang als Kriegsfotograf für das Magazin Estero gearbeitet hat, in den Ruhestand geschickt wird, verlässt ihn seine Freundin Marlis, eine Tierpflegerin, die fünfzehn Jahre in ständiger Angst um ihn gelebt und immer auf ihn gewartet hat. Sie ist abgereist zu ihrem venezianischen Gymnasiallehrer und hat seinen blauen Glückskoffer mitgenommen, der ihn begleitet hat in die Kriegsgebiete, nach Tschetschenien, Bosnien, Afghanistan und in den Irak. Ihm hat nie einer geglaubt, dass auch "sein Beruf vor allem aus Warten bestanden hatte. Warten auf die Gelegenheit".

Sabine Gruber beweist mit ihrem großen Roman "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks" wieder ihre politische Zeitgenossenschaft. Sie erzählt von den Traumatisierungen eines Mannes, der sein Leben lang versucht hat, Kriegsereignisse in Bildern festzuhalten, um das Unrecht und die Verbrechen zu dokumentieren. Er denkt "in Kriegen" und kann nicht mehr abschalten, "die Bilder ließen sich nicht wegklicken, die Wörter nicht streichen". Und dass die Bilder und Wörter des Krieges Daldossi untauglich machen für die Schrecken des Friedens, das deutet schon der mehrdeutige Titel "Das Leben des Augenblicks" an und das zeigt die ebenso präzise wie subtile Sprache dieses Romans.

Daldossi, der sich für den "Menschenschutz" engagiert, kann keine Empathie mehr entwickeln für den Tierschutz, dem sich Marlis verschrieben hat, die traumatisierte Bären betreut. Er erträgt ihre "Bären- und Familiengeschichten" nicht mehr, sie nicht seine "Knipserei". Die im Bad zurückgebliebenen Kosmetika von Marlis sind "verminte Gegenstände","an denen jetzt die Erinnerungen explodierten".

Nur ein Bild im Kopf

Was Daldossi lange half, waren Alkohol, Beruhigungsmittel, manchmal Sex, um sich zu betäuben, und der Gedanke an Marlis als sein Zuhause. "Graurauschen" nannte sein Kollege Henrik Schultheiß einen Zustand, der "nach einem Seelenbrand übrigbleibe, innere Dämmerung und Abwesenheit von ablenkenden Geräuschen". Daldossi weiß, dass Marlis Recht hat, wenn sie ihm vorwirft, dass etwas von ihm an den "Schreckensorten" zurückgeblieben ist, und auch, dass er seine Energie und seine Konzentration lediglich dafür verwenden würde, "die Wirklichkeit in Bilder zu verwandeln. Er verstehe es gar nicht, die Wirklichkeit als Wirklichkeit zu leben, seine sei immer nur ein Nacheinander der Bilder, die er im Kopf habe. Ich bin auch nur ein Bild in deinem Kopf."

Bruno Daldossi kann sich nicht in der Handlungsgegenwart des Romans bewegen, ohne ständig an Kriegserfahrungen erinnert zu werden. Die Erfahrungswelten aus verschiedenen Zeiten überlagern sich und ermöglichen keinen Halt mehr in der Wirklichkeit. Und schließlich muss Daldossi erkennen, dass er sich, seit ihm Marlis abhanden gekommen war, "nicht mehr in der Zeit bewegen" kann. Ebenso leise wie eindringlich beschreibt Sabine Gruber in vielen großartigen Momentaufnahmen, welche Herausforderung es ist, nicht "mit dem Krieg, sondern mit dem Frieden fertigzuwerden".

Von ihrem ersten Roman "Aushäusige" (1996),"Die Zumutung" (2003),"Über Nacht" (2007) und "Stillbach oder die Sehnsucht" (2011) bis zu "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks" sind Sabine Grubers Bücher als literarische Erkundungsreise zu lesen, wie man ausgehend von eigenen Erfahrungen und Recherchen Wirklichkeit in Kunst verwandeln kann, die aufklärt und an der Hoffnung auf Veränderung festhält. Und so verwundert es nicht, dass Figuren in wechselnden Konstellationen in ihren Büchern auftauchen. In der Danksagung ihres neuen Romans verweist Sabine Gruber als Referenzfigur für Daldossi auf ihren Freund Gabriel Grüner, der als Kriegsreporter für die Zeitschrift Stern gearbeitet hat und 1999 zusammen mit dem Fotografen Volker Krämer und dem Übersetzer Senol Alit im Kosovo erschossen wurde. Sie selber hat einen aus Anlass dieser Todesfälle eingerichteten Überlebenstrainingskurs für Journalisten der deutschen Bundeswehr in Hammelburg absolviert.

Fotos als Gedächtnisspeicher

Sabine Gruber nähert sich der Bilderwelt als Schriftstellerin und schon das Motto ihres Romans von Christoph Bangert, einem Kriegsfotografen, verweist auf die Bedeutung von Bildern: "Wir erinnern uns in Bildern. Wenn wir uns verbieten, Bilder anzusehen, wie sollen wir das Geschehene im Gedächtnis speichern? Woran wir uns nicht erinnern, das hat nicht stattgefunden." So sehr Fotos berühren können, ohne Bildunterschrift sind Fotos nicht lesbar, davon zeugen immer wieder Kriegsfotos, die ideologisch vereinnahmt und manipuliert werden, denn Bilder müssen kontextualisiert werden. Sabine Gruber weiß, dass Literatur "viel größere Freiheiten" hat, aber auch, wie wichtig Fotos als Gedächtnisspeicher sind, und sie wehrt sich gegen den Vorwurf, dass Kriegsfotografen gefühllose Abenteurer sind, immer auf der Suche nach dem spektakulärsten Foto, das von Agenturen gefordert wird.

Daldossi wollte immer das Schicksal der Leute teilen und "es ging um deren Würde". Und er kann Menschen nicht leiden, die mitfühlen und deren Entsetzen sich bloß auf die Bilder bezieht. Denn er kann kein gegrilltes Fleisch mehr essen, weil er dabei ständig an die verbrannten Leichen im Irakkrieg denken muss. Er hat als Fotograf nicht nur einmal sein Leben riskiert, viele seiner Kollegen haben nicht überlebt, auch davon erzählt der Roman, der in einer Mischung aus Fiktion und Fakten sechzehn Fotos nicht abbildet, sondern wie in einem Katalogtext beschreibt und an herausragende Kriegsreporter erinnert, von Robert Capa bis Anja Niedringhaus. Sabine Gruber hat für den Roman die Biografien von etwa zwei Dutzend Kriegsfotografen und -fotografinnen recherchiert und musste feststellen, dass die Ergebnisse niederschmetternd waren, was ihr Privatleben betrifft.

Bilder und Texte

Während Kriegsfotografen an der Front unter Einsatz ihres Lebens arbeiten, können die Reporter aus sicherer Distanz schreiben und sich bisweilen auf Augenzeugenberichte verlassen. Diese Differenz lotet Sabine Gruber am Beispiel der schwierigen Beziehung von Bruno Daldossi und Henrik Schultheiß aus, ohne eines der beiden Genres zu favorisieren. Sie zeigt, wie Bilder und Texte aufeinander angewiesen sind. Auch Schultheiß wurde von seiner Frau Johanna verlassen, nicht zuletzt deshalb, weil er sich auf sie warf, als ein Feuerwerkskörper explodierte, und sie sich ein Bein dabei brach - er bemerkte erst danach, dass sie sich in einer Friedensregion befanden.

Johanna nimmt nach dem Tod ihrer Mutter Kontakt mit Daldossi auf, als sie in Wien ist. Sie ist Reporterin und soll für ein Frauenmagazin eine Geschichte über weibliche Flüchtlinge in Lampedusa schreiben. Daldossi folgt ihr nach seiner "gescheiterten Friedensmission" in Venedig auf die Insel. Ihre Erzählperspektive kontrastiert im letzten Teil des Romans Daldossis Sichtweise. Der Schluss bleibt offen, erweckt aber in der Beschreibung eines fiktiven Fotos aus dem Jahr 2019 die Hoffnung, dass ein junger Afrikaner gerettet werden konnte.

Sabine Grubers Roman "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks" ist ein eindringliches literarisches Plädoyer für die Vergegenwärtigung des Schreckens der Welt. Bilder und Texte können die Welt nicht verändern, aber - so Sabine Gruber im Gespräch mit ihrem Lektor Martin Hielscher - "ich glaube auch, daß wir es trotzdem versuchen müssen".

Daldossi oder Das Leben des Augenblicks

Roman von Sabine Gruber

C. H. Beck 2016 315 S., geb., € 22,60

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