Die Zeit der Großen MAUER

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Wie ein Wall, der den Flüchtlingsstrom von Ost nach West stoppen sollte, zur tödlichen Grenze, zum Mahnmal und schließlich zur Attraktion wurde.

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Wie ein Wall, der den Flüchtlingsstrom von Ost nach West stoppen sollte, zur tödlichen Grenze, zum Mahnmal und schließlich zur Attraktion wurde.

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Berlin, November 2014: Der Checkpoint Charlie mitten in der Stadt ist einer der belebtesten Anziehungspunkte für Touristen aus aller Welt. Da, wo einst der Übergang von der sowjetisch besetzten Zone nach Westberlin von alliierten Soldaten beider Seiten bewacht wurde, dienen die olivgrünen Sandsäcke nur mehr als Kulisse für Erinnerungsfotos. Zwei Männer in GI-Uniform lassen sich da für einen Beitrag von zwei Euro oder drei Dollar mit chinesischen Ehepaaren oder kichernden Mädchen aus Connecticut ablichten. Ringsum werden sowjetische Uniformteile, russische Matrjoschkas, DDR-Anstecker und weitere Nostalgie-Souvenirs verkauft. Auch im kleinen Laden neben dem Mauer-Museum läuft das Geschäft blendend, wie die Verkäuferin bestätigt. Postkarten, Kühlschrankmagnete, das Schild "You are leaving the American sector" und Mauerstücke in allen Größen seien besonders gefragt.

Zementstückchen mit Zertifikat

Die Mauer, in Millionen bunte Zementstückchen mit Echtheitszertifikat zerlegt, ist 25 Jahre nach ihrer Beseitigung nicht mehr als eine kuriose Erinnerung an eine Zeit, als Ost und West einander im Kalten Krieg mit Atomwaffen in Schach zu halten versuchten. Für die Einwohnerinnen und Einwohner von Berlin war sie eine Trennwand, die Familien zerriss, Karrieren beendete oder beförderte und allen täglich vor Augen führte, wie ohnmächtig der Mensch gegenüber den Interessen der hohen Politik ist. Und sie ist ein unerschöpflicher Quell für wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literatur, die jeden Aspekt von der Planung des systemtrennenden Bauwerks bis zu seinem Fall aufarbeitet. Besonders viel wurde aber über Genese und Folgen des Mauerfalls am 9. November 1989 geschrieben.

Hans Hermann Hertle, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Potsdam, ist so etwas wie der Starautor des Christoph-Links-Verlags in Sachen Berliner Mauer. Seine Chronik des Mauerfalls gilt als Standardwerk. Hertle hat für seine Forschungen noch Zeitzeugen angetroffen, die in ihren Funktionen tätig waren und durfte zahlreiche Originaldokumente einsehen. Dadurch konnte er wirklich alle Hintergründe ausleuchten und Entscheidungen der DDR-Führung plausibel machen. Hertle: "Das ganze Buch beruht darauf, dass ich Dokumente auswerten konnte, zum Teil aus Privatarchiven, die bis dahin nicht bekannt waren". Darunter etwa der berühmte Zettel des Günther Schabowski. Schabowski war der Sekretär für Informationswesen des Zentralkomitees der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei (SED), der am 9. November 1989 gegen seinen Willen den Sturm auf die Mauer auslöste.

Die Mauer, errichtet ab dem 13. August 1961, sei erst als Option für die Abschottung des Landes erwogen worden, als die Option einer ungeteilten Stadt sich als nicht gangbar erwies. Hertle hat Dokumente aus Moskau studiert, die das belegen: "Westberlin wurde als Splitter im Herzen des sozialistischen Europa empfunden".

Zweifach unter Druck

Nikita Chruschtschow, der damalige Sowjetführer, hatte SED-Chef Walter Ulbricht aufgetragen, Westberlin unter Kontrolle zu bekommen. Denn es galt, den Flüchtlingsstrom von Ost nach West zu stoppen. Entscheidender Wendepunkt war ein historisches Treffen in Wien im Jahr 1961. US-Präsident John F. Kennedy machte da Chruschtschow unmissverständlich klar, dass er eine Übernahme Westberlins nicht dulden würde. Hertle: "Der hat darauf der zweitbesten Lösung zugestimmt, dass Ulbricht zunächst die Stadthälften mit Stacheldraht abtrennt". Die Entscheidung sei erst um den 20. Juli - also wenige Tage nach dem Wiener Gipfel, gefallen.

28 Jahre später, im Herbst 1989, stand die DDR-Führung bereits zweifach unter Druck. Einerseits hatte der im Sommer einsetzende Flüchtlingsstrom von DDR-Bürgern über Ungarn und die bundesdeutsche Botschaft in Prag bereits Löcher in den Eisernen Vorhang gerissen. Andererseits steuerte der Arbeiterund Bauernstaat auf den wirtschaftlichen Bankrott zu. Natürlich herrschten im Politbüro keine Illusionen hinsichtlich der wirtschaftlichen Aussichten.

Die eigenen Prognosen gingen davon aus, dass die zunehmende Westverschuldung gemeinsam mit der inneren Verschuldung, mangelnden Investitionen und einer zunehmend verfallenden Industrie und Infrastruktur spätestens 1991 zur Zahlungsunfähigkeit führen würde. Um das zu vermeiden, hatte der Chef der Planungskommission im Politbüro zur Diskussion gestellt, den Lebensstandard um 25 bis 30 Prozent zu senken.

Staats-und Parteichef Erich Honecker hatte jahrelang versucht, seinen Bürgern einen Lebensstandard zu ermöglichen, der den Vergleich zum Westen nicht allzu krass ausfallen lassen sollte. Allerdings war das Konsumniveau nicht durch wirtschaftliche Produktion gedeckt. Die DDR musste sich zunehmend im Westen verschulden. In Polen hatte man diese Diskrepanz durch Preiserhöhungen zu überbrücken versucht. Eine unkontrollierbare Streikbewegung war die Folge. "Für Honecker", so Hans Hermann Hertle, "war das polnische Beispiel sehr lebendig. Er widersetzte sich jedem Vorschlag einer Preissteigerung weil er vor ähnlichen Reaktionen in der Deutschen Demokratischen Republik Angst hatte".

Die von Bürgerkomitees und den evangelischen Kirchen ausgehenden Protestdemonstrationen waren nicht mehr einzudämmen. Erstmals hatte die Parteiführung sogar unter dem Druck der Beweise zugeben müssen, dass sie eine Wahl gefälscht hatte. Honecker trat darauf am 18. Oktober zurück. Egon Krenz, sein Nachfolger als Chef des Zentralkomitees der Einheitspartei, war klar, dass hartes Einschreiten gegen die Demonstranten ein Blutbad zur Folge haben würde. Er versuchte daher mit flexibleren Ausreisebestimmungen ein Ventil zu öffnen.

"... nach meiner Kenntnis"

So kam es zur berühmten Pressekonferenz vom 9. November. Günther Schabowski stellte diese neuen Regeln aber nur teilweise vor. Hans Hermann Hertle: "Damit war nicht beabsichtigt, die Mauer einzureißen, sondern Ausreisen aus der DDR zuzulassen". War es früher praktisch nur für Pensionisten möglich, eine Privatreise in den Westen genehmigt zu bekommen, so sollten jetzt alle diese Möglichkeit bekommen. Allerdings brauchten sie dazu einen Reisepass und ein Visum.

Einen Pass hatten aber nur etwa vier Millionen DDR Bürger, nämlich vorwiegend Rentner. Man erwartete also, dass am nächsten Tag die DDR-Bürger brav zur Volkspolizei gehen würden, um eine Reisegenehmigung und einen Pass zu beantragen. Die Ausstellung eines Reisepasses dauerte vier bis sechs Wochen. Man hätte also Zeit bis Weihnachten gekauft.

Bekanntlich kam es anders. Von einem Bild-Reporter gefragt, wann denn die neue Regelung in Kraft treten sollte, sah Schabowski hilflos um sich, suchte Anhaltspunkte auf seinem Zettel und sprach dann die historischen Worte: "Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich". Da die Pressekonferenz vom DDR-Fernsehen und Radio live übertragen wurde, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer und wurde schnell von den Westmedien als Sensationsmeldung aufgegriffen. Wenig später machten Menschenansammlungen an der Mauer auf die hilflosen Grenzbeamten Druck.

Der Mauerfall ist daher für Hertle "das erste welthistorische Ereignis, das als Folge seiner Verkündung in den Medien stattgefunden hat".

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