Die Zeitzeugin bleibt distanziert

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Der zweite Roman aus dem Nachlaß von Veza Canetti: "Die Schildkröten" zeigen das Jahr 1938 provozierend blasiert.

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Der zweite Roman aus dem Nachlaß von Veza Canetti: "Die Schildkröten" zeigen das Jahr 1938 provozierend blasiert.

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Die Fratze des Jahres 1938 ist mit allen erschütternden Facetten bereits in unzähligen zeitgeschichtlichen Darstellungen wie auch in Romanen und in den Erinnerungen vieler Zeitzeugen porträtiert worden. Veza Canettis zweiter aus dem Nachlaß publizierter Roman ist eine literarische Darstellung der Ereignisse, deren Autorin es dennoch schafft, Interesse zu wecken und eine neue Perspektive zu bieten. Kaum je wurden Unmenschlichkeiten und Anmaßungen, der Größenwahn kleiner Nazis und die Illusionen, die sich viele Juden noch immer bewahrten, in einer derart zurückhaltenden Prosa beschrieben.

Mehr Bewunderung als die tatsächliche Schilderung der Bemühungen des Schriftstellers Dr. Andreas Kain und seiner Frau Eva um eine Ausreise aus der "Ostmark", die naiven Versuche von Hilde, die tatsächlich glaubt, von einem Nazi einen Aeroplan für die Flucht kaufen zu können, verlangt wohl der vor dem Schreiben stattgefundene Prozeß der Zurücknahme und Selbstbeschränkung der Autorin. Aber auch das Durchhalten dieser Perspektive muß eine gewaltige Kraftanstrengung gekostet haben, wenn man bedenkt, daß der Roman, unmittelbar nach der Flucht Veza Canettis mit ihrem Mann Elias Canetti, in England 1939 geschrieben wurde. Die Distanz, die noble Blasiertheit, mit der sie über Erniedrigungen schreibt, läßt die menschlichen Klüfte, die Gräben zwischen Mensch und Unmensch, um so tiefer erscheinen. Dazu kommt freilich eine Fülle von kleinen literarischen Kunstgriffen, etwa wenn sie Eva die Nazi-Frau, die ihre Villa arisiert, sprich: raubt, fragen läßt, ob sie wohl auch mit allem zufrieden sei.

Bei Veza Canetti sind auch die Unmenschen keine Monster mit Fratzen, sondern alltägliche Erscheinungen, für die eben nur der politische Rahmen geschaffen wurde, in dem sie ihre Gelüste ausleben können. Die Zurückhaltung Canettis ist fast eine Provokation. "Es hat aber seinen Grund, wenn er ruhigen Gemütes die Ereignisse an sich herankommen ließ, er brauchte sie nicht zu fürchten, denn sie hatten sich seiner gleich im Anfang bemächtigt, vor einem halben Jahr, und ein blauer Fleck unter dem linken Auge gab Zeugnis davon. Er kam aber mit dem blauen Auge davon, kurz gesagt, er war schon eingesperrt, geschlagen und wieder freigelassen worden und konnte sich seines Lebens freuen", so wird der Herr Felberbaum beschrieben, der den Kains Unterschlupf gewährt, nachdem sie aus der Villa vertrieben wurden. Veza Canetti überzieht das Geschehen und die Personen mit einer Art Folie, einem Schutzfilm der Menschlichkeit, der allen Personen, Opfern wie Tätern, das Menschsein nicht abspricht. Dies hat nichts mit Naivität zu tun, vielleicht aber mit Illusionen, in einer ersten Schicht der Erkenntnis dämmert bereits die Ahnung der Schoa: "Ihnen sind aber die Ohren voll von den Reden ihrer Führer, wenn sie ihnen folgen, wird bald kein Platz mehr auf dem großen Friedhof sein. Die jüdische Gemeinde muß ein großes Stück dazukaufen ..." Natürlich nagen die Zweifel an jeglichem Selbstschutz und Eva zweifelt bereits von Beginn an, während ihr Mann noch an die Integrität der Menschen glaubt: "Und du kannst glauben, es wird nicht an ihr hängenbleiben? Von den neuen Gesetzen? Du hast dein Latein vergessen, Kain. Es schlagen jeden Tag neue Gesetze auf uns nieder, gegen Menschen mit schwarzen Haaren. Zuletzt wird es sie auch berühren".

Wie auch in Veza Canettis Roman "Die gelbe Straße" bevölkern eine Unzahl von skurrilen Figuren die Umgebung der Villa, so zum Beispiel die Vermieterin, die endlich hofft, daß Südtirol wieder zu Österreich kommt, die geretteten Schildkröten, die noch einmal davongekommen sind und denen nicht das Hakenkreuz in den Panzer eingebrannt wird und nicht zuletzt Hilde, die mit dem Nazi Pilz Dialoge führt, die so nie geführt hätten werden können und vielleicht deshalb schon wieder realistisch wirken: ",Wenn Sie bei der Legion waren, dann sind Sie doch ein Bombenwerfer! Sie sind am Ende der Bombenwerfer von Krems! Ist das aufregend! Wir sitzen mit dem Bombenwerfer von Krems an einem Tisch! Sie haben doch nicht diese Bomben geworfen! Da haben Sie doch auch Leute getötet?' ,Ja das ist so üblich beim Bombenwerfen, kleines Fräulein.'" Die Gewalt als Konversationsthema beim Heurigen, die Mörder als Nachbarn, die auch sieben Jahre später wieder an diesen Tischen bei einem Gläschen Wein sitzen werden. (Mit der Legion ist die militärische Formation österreichischer Nazis in Deutschland vor 1938 gemeint.)

Selten durchbricht die Autorin ihre noble Zurückhaltung, etwa als die Kains Zeugen werden, wie eine Frau und ihre Tochter den Selbstmord einem Leben in Demütigung und Angst vorziehen. Dabei taucht plötzlich eine Faust in Evas Augenwinkel auf. "Die Faust war weiß, als wäre sie erbleicht. Die Finger krallten sich zitternd in den Daumen. Die Faust schlug auf das Brett, es klang hart. Da hob sie den Kopf und wurde ganz still. Neben ihr stand Kain. ,Diesmal verstehen wir uns, Kain.'"

In den dreißiger Jahren zählte Veza Canetti, die angesichts des Antisemitismus unter Pseudonymen publizierte, zu den großen Hoffnungen der Literatur. "Bei dem latenten Antisemitismus kann man von einer Jüdin nicht so viele Geschichte und Romane bringen und ihre sind leider die besten", hat damals der für das Feuilleton zuständige Redakteur der Arbeiter-Zeitung König gemeint. Durch die Flucht, die Unmöglichkeit, weiter auf Deutsch zu schreiben und vom Unverständnis der Theater nach dem Krieg desillusioniert, vernichtete sie Ende der fünfziger Jahre einen Großteil ihrer Manuskripte und zog sich ins literarische Schweigen zurück.

"Die Schildkröten" blieben unvollendet, ein Versprechen auf hohem Niveau, dessen Erfüllung nur imaginiert werden kann und das zwar nicht an "Die gelbe Straße" heranreicht, aber durch die gewagte Perspektive noch immer eine Sonderstellung in der Literatur über das Jahr 1938 einnimmt.

Die Schildkröten. Roman von Veza Canetti. Carl Hanser Verlag, München 1999. 288 Seiten, geb., öS 263,-/e 19,11

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