Die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen

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„Mein Tip ist im übrigen Nádas – if any“, schreibt Imre Kertész am 3. August 1993 über die Spekulationen, ein ungarischer Schriftsteller würde den Nobelpreis erhalten, in einem Brief an Eva Haldimann. Neun Jahre später ist es soweit, in Stockholm wird tatsächlich ein ungarischer Schriftsteller mit dieser Auszeichnung geehrt, allerdings nicht Péter Nádas, sondern Imre Kertész: „Für ein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet.“

Geboren am 9. November 1929 in Budapest, wurde Kertész 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. 1975 erschien sein autobiografischer „Roman eines Schicksallosen“ in Ungarn, wo er allerdings zunächst kaum beachtet wurde. Dass es Kertész nicht leicht hatte in und mit seiner Heimat, wird auch aus seinen Briefen an Eva Haldimann, aus Ungarn gebürtige Literaturkritikerin der Neuen Zürcher Zeitung, deutlich, Briefen, die nun im Rowohlt Verlag erschienen sind. Eine Episode in Tutzing im Jahr 1993 illustriert beispielhaft die Situation. Die Evangelische Akademie hatte Kertész zu einer Tagung eingeladen und wurde von einem Beauftragten der ungarischen Regierung mit dem Vorwurf konfrontiert, der auch in „Ich – ein anderer“ nachzulesen ist, „ich schriebe nur über ein einziges Thema (nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für das Land (nämlich Ungarn)“.

Antisemitismus und Nationalismus in Ungarn setzten Kertész arg zu, der deshalb dann auch nach Berlin übersiedelte – und weiterhin mit Romanen und Essays gegen Totalitarismus und Massengesellschaft anschrieb, die Auschwitz möglich machten. Der Literaturwissenschafter László F. Földényi, der soeben ein informatives Kertész-Wörterbuch veröffentlicht hat, fasst den Essay, den Kertész damals für die Akademie verfasst hatte, so zusammen: Von Ideologien müsse man sich verabschieden, auch von den für gut gehaltenen. „Mit einem Wort, von allem, was den Menschen mit der Illusion lockt, es könnte ihm irgendein anderer die Bürde und Verantwortung des Daseins von den Schultern nehmen. Solche Illusionen sind die allergefährlichsten Fallen; man begibt sich freudig in sie hinein und bemerkt nicht, daß die Sicherheit, die man erhält, mit Stacheldraht bewacht wird.“

In Auschwitz erfüllte sich der Wahn des Kollektivismus, die Zerstörung des Individuums durch die Totalität, wurden Menschenleben ausgerottet und Selbstbewusstsein und Persönlichkeit liquidiert. Auch über die Befreiung von Auschwitz gibt sich Kertész illusionslos: „Vergessen wir nicht, daß man Auschwitz keineswegs wegen Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsglück umschlug.“

In Werken wie „Roman eines Schicksalslosen“, „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, „Galeerentagebuch“, „Ich – ein anderer“, „Fiasko“, „Liquidation“ bildet Kertész, der heuer auf der Frankfurter Buchmesse den Jean Améry-Preis für Essayistik erhielt, nicht ab, sondern verwandelt durch Schreiben in Gegenwart. „Die Kunst jedoch … ist nicht dazu da, Menschen zu verurteilen, sondern den Augenblick neu zu erschaffen. Und in dieser Hinsicht sind die Bilder des Schmerzes gerade soviel wert wie die des wolkenlosen Glücks.“

Wichtig ist und bleibt das Zeugnis; „das Verlangen, Zeugnis abzulegen, wächst dennoch, als sei ich der letzte, der noch lebt und reden kann, und ich richte meine Worte gleichsam an jene, die die Sintflut, den Schwefelregen oder die Eiszeit überleben.“

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