Die Zielgruppe: Der FURCHE-Denker

Werbung
Werbung
Werbung

Süchtige des Denkens, Bewohner einer intellektuellen Nische, kritisch gegenüber dem Mainstream, verdorben für Seichtigkeit, Seitenblicke und Wahlkampf: Solcherart wurden die potenziellen und tatsächlichen Leser unserer Zeitung bei der großen Relaunch-Feier am 8. Oktober charakterisiert.

Wer soll sie denn lesen, diese alte neue FURCHE? Wenn ich Betreiber eines Marketing-Consulting-Instituts oder dergleichen wäre, dann würde ich die österreichische Gesellschaft in mindestens 28 Typen gliedern, die ich mit originellen Bezeichnungen etikettieren müsste, um die Kosten für meine Marktanalyse zu rechtfertigen; und der 17. Typus wäre dann die Zielgruppe für eine Publikation wie die FURCHE. Ich würde sie näher beschreiben, diese Zielgruppe: ihre Essgewohnheiten, ihren Wohnungsstil, ihre Urlaubswünsche und die Automarke.

Heute Abend müssen wir aber keine Verhandlungen über Werbeeinschaltungen führen; noch nicht. Deshalb geht es nicht um den Lebensstil der Leserinnen und Leser, sondern um ihren Denkstil. Nicht um ihre Kaufkraft, sondern um ihre Denkkraft. Nicht um Bionahrung, sondern um Geistesnahrung. Eine Beschreibung der Köpfe, nicht der Milieus.

Es geht um die Furchen der FURCHE, um die Spuren, die hinterlassen werden sollen. Schon das darf als kühnes Ziel betrachtet werden: in einer flüssigen, flüchtigen Gesellschaft, in der jede Meldung umgehend hinweggeschwemmt und eingeebnet, übertönt und überdröhnt wird. In eine hyperaktive Gesellschaft, in eine karge Luxusgesellschaft sollen spürbare Impulse hineingesetzt werden. Das ist kühn.

FURCHE lesen – ein Verhängnis

Aber die FURCHE ist ein Denkinstrument, und sie kann nichts anderes sein. Deshalb kann es bei der Zielgruppe nur um den „FURCHE-Denker“ gehen – womit wir doch ein Etikett zur Anwendung bringen. Der FURCHE-Denker – das unbekannte Wesen; so etwas Ähnliches wie der Yeti: Viele glauben, ihm begegnet zu sein, aber er lässt sich schwer beschreiben, und manche beschreiben ihn unterschiedlich. Was also ist der FURCHE-Denker, dieses Zielgruppen-Exemplar, dieses Prachtstück unserer medialen Schmetterlingssammlung?

Erstens: Der FURCHE-Denker ist ein Süchtiger. Wenn man mit dem Denken einmal angefangen hat, dann ist es schwer, damit wieder aufzuhören. Andere Zeitschriften haben „Abonnenten“, weil ihre Leserinnen und Leser die Abbestellung vergessen. Aber die FURCHE-Menschen können gar nicht anders: FURCHE lesen ist ein Verhängnis. Rundum viele geistige Suchtberater, die die Menschen vor dem Eintritt in eine solche Denklandschaft bewahren wollen. Denn dass ein solcher Denkeinstieg geschehen, gar epidemisch sich verbreiten könnte, ist schon immer die Angst der Machthaber und die Hoffnung des Geistes gewesen.

Im Reich der Reflexivität

Die alte aufklärerische Hoffnung besagt: Jeder Mensch kann mit dem Denken infiziert, kontaminiert, vergiftet werden; sodass er dann für den Mainstream verdorben ist, für die Seichtigkeit und die Seitenblicke und den Wahlkampf.

Zweitens: Der FURCHE-Denker ist ein Bürger oder eine Bürgerin in einem Reich der Reflexivität, aus dem es kein Entrinnen gibt. Keine Rückkehr in das unhinterfragte Wissen, in die unreflektierte Gläubigkeit, in die Selbstverständlichkeit der bequemen Einbettung. Die FURCHE ist eine Nische, und die Nischenbewohner meinen, dass man nicht jede Hoffnung fahren lassen muss, dass sich die Nische vergrößern lässt. Ein kleines intellektuelles Habitat in einem feindselig-unfruchtbaren Umfeld – aber vielleicht expandiert die Nische, dringt über ihre Grenzen, bricht auf zur Exploration benachbarter und ferner Gestade. Und am Ende kommt man vielleicht darauf, dass die zerstückelte Welt doch wieder rund werden könnte.

Drittens: Der FURCHE-Denker lebt in einer anderen Wirklichkeit, nicht nur der jenseitigen, sondern auch in einer anderen diesseitigen Wirklichkeit. Der Mainstream ist mit dem Naheliegenden, dem bekannten Neuen zufrieden; mit dem Kommentar, der die Vorurteile bestätigt; mit der Nachzeichnung und Ausmalung der vorgängigen Weltbilder. Der FURCHE-Denker runzelt dort die Stirn, wo die anderen längst schon nicken. Denn dass sich die Wirklichkeit von selbst versteht, glauben nur jene, die nichts verstehen. Es gibt unterschiedliche Wichtigkeiten, unterschiedliche Relevanzstrukturen, die wir über die Wirklichkeit legen. Die Relevanz der Massenleser orientiert sich am Lauten, Grellen, Bunten, Zuckenden, Lustigen; an Sensation und Skandal, am Emotionellen und Populistischen. Der FURCHE-Denker weiß um die Umwege des Wissens, um die Subtilitäten und Tiefgründigkeiten, um die Zwischentöne und Anklänge, um die Widersprüche und Unsicherheiten. Er will nicht erregt, sondern angeregt werden.

Zögernd, nicht zaudernd

Viertens: Der FURCHE-Denker ist diskriminierend – das heißt: der Unterscheidung verpflichtet. Das FURCHE-Denken ist manchmal, selten genug, brillant, funkelnd, wie die Blitze und die Sterne. Es versucht aber jedenfalls zu unterscheiden: Oft sind die Blitze und Sterne ja bloße Blitzlichtgewitter, von denen nichts übrigbleibt. Oft sind es Verhältnisse, wo Exzellenz draufsteht und Schaumschlägerei drinnen ist. Oft klingt es tief und raunend, und bei genauerer Betrachtung sind es doch nur Nebelschwaden. Oft tönt es technokratisch und ist doch ideologisch. Oft klingt es menschlich und ist doch allzu menschlich. Der FURCHE-Denker schaut zweimal hin. Er neigt zum Zögern, nicht zum Zaudern; aber er lebt in Spannung zu einer allzu schnell entschlossenen Gesellschaft, einer Hüftschussgesellschaft, die alles weiß und vor sich hin lamentiert.

Verweigerer der Euphorie

Fünftens: Der FURCHE-Denker ist ein gelassener Mensch. Er weiß um Begrenztheit und ist doch neugierig. In einer maßlosen Gesellschaft ist er ein „Zufriedener“, womit er sich allein schon verdächtig macht, als Verweigerer des Applauses und der Euphorie und deshalb auch als Sozialschädling, als Ignorant der Zukunftsdynamik, als Zeitgeistverweigerer. Denn für viele Zeitgenossen ist nichtinvestives Vorsichhindenken etwas für verirrte Geister und verlorene Seelen. Die Insider, die Inkludierten, die Läufer und Käufer sagen: Nur jene loben die Zufriedenheit, denen die Trauben zu hoch hängen. Die FURCHE-Denker hingegen halten es nicht für ein persönliches Defizit, sich im Turbo-Jubel unbehaglich zu fühlen. Gelassenheit heißt auch nicht Langeweile. Gelassenheit hindert etwa nicht daran, in aller Schärfe zu fragen, ob ein Ambiente, in dem das Unwichtigste prominent wird und das Überlebenswichtige ignoriert wird, ob dieses Ambiente nicht ein „Narrenhaus“ ist.

Das also ist die Zielgruppe der FURCHE: Süchtige des Denkens; Menschen, welche die Reflexion nicht lassen können; Bewohner einer Nicht-Mainstream-Welt; Leute, die diskriminieren, zögern und zweimal hinschauen; gelassene Zeitgenossen inmitten der Panik.

Wenn das österreichische Bildungssystem es schafft, jede fünfzigste Person zur Denkfähigkeit zu bringen, wären das in Österreich fast 150.000 Leserinnen und Leser. Als Zielgruppe für den Anfang nicht schlecht.

Zum Fest siehe auch S. 18/19

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz.

150.000

So viele Leserinnen und Leser traut Manfred Prisching der FURCHE zu – „wenn das österreichische Bildungssystem es schafft, jede fünfzigste Person zur Denkfähigkeit zu bringen“. Na dann …

„Der FURCHE-Denker runzelt dort die Stirn, wo die anderen längst schon nicken. Denn dass sich die Wirklichkeit von selbst versteht, glauben nur jene, die nichts verstehen.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung