Die zweite Wirklichkeit

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Europa muss Strategien entwickeln, die dazu beitragen, die Krisenphänomene der Nationalstaaten zu überwinden.

Das Dilemma des europäischen "Projektes" liegt in der Diskrepanz zwischen der ökonomischen Macht auf der einen und der Verfasstheit der europäischen Zivilgesellschaft auf der anderen Seite. Die Ohnmacht dieser schwer messbaren "zweiten Wirklichkeit" ist immer wieder in sehr unterschiedlicher Weise deutlich geworden: bei den für Österreich - aber noch viel mehr für die eu-14 - schädlichen Sanktionen; beim Auseinanderlaufen der europäischen Staaten, wenn der Ruf des transatlantischen Kriegsherrn ertönt; oder bei der Unruhe, die das politische Establishment erfasst, wenn die Verfassung der eu in einem Mitgliedsland per Referendum legitimiert werden soll.

Um dieses Spannungsfeld können drei ineinander verzahnte Aspekte unterschieden werden, die ihren Ausgangspunkt auf der Ebene der Nationalstaaten haben und sich auf der supranationalen Ebene Europas verstärkt fortsetzen.

I. Die Medien. Die Aussage des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, dass wir lediglich von der Welt wissen, was wir aus den Massenmedien erfahren haben, hat nichts an Gültigkeit verloren, im Gegenteil. Sind diese doch vom neutralen Informationsmedium zu jenem "Raum" mutiert, in dem öffentliche Meinung "gemacht" wird - womit sie die Wirklichkeit auch maßgeblich steuern. Umso paradoxer, dass Staats-, Völker- und Sprachgrenzen nach wie vor durch die Massenmedien Europas nicht überwunden wurden: kein paneuropäischer Radio- oder Fernsehkanal, keine Wochenzeitung, die zumindest in den wichtigsten Landessprachen erscheint und zu dem beitrüge, was Europa so sehr fehlt: eine gemeinsame, diskursive Plattform als Nährboden für eine europäische Zivilgesellschaft.

II. Die Demokratie. Der zunehmende Konformismus breiter Wählerschichten in sämtlichen europäischen Staaten drückt sich in kontinuierlich sinkender Wahlbeteiligung und in einer wachsenden Skepsis gegenüber "denen da oben" aus. Diese weit verbreitete Grundstimmung wird von dem Gefühl genährt, an der politischen Gestaltung nicht teilhaben zu können; und dass Politik zum medialen Showdown verkommt, in dem leichtverdauliche Botschaften aus der Trickkiste von Werbestrategen gezaubert werden. Was bedeutet das für die eu? Dort hat sich die Kluft zwischen Individuum und "System" noch weiter vertieft - sicherlich aufgrund der Distanz, aber auch wegen der Tatsache, dass trotz aller Beteuerungen und Reformen das einzig direkt gewählte Organ der eu keine wirkliche gesetzgebende Gewalt innehat und wesentliche Entscheidungen diskret und im kleinen Rahmen getroffen werden.

III. Die Globalisierung. Die Hilflosigkeit der einzelnen Staaten gegenüber den Gesetzen des Weltmarktes und seinem erbarmungslosen Effizienz- und Rentabilitätsdruck verstärkt die Skepsis gegenüber der ohnmächtigen Politik. Die Ohnmacht Europas liegt im Unvermögen, auf supranationaler Ebene Lösungsansätze und Perspektiven für die Probleme des Nationalstaates zu entwickeln. Es scheint, als würden die strukturellen Probleme der nationalen politischen und ökonomischen Systeme auf die supranationale Ebene projiziert und in ihrer Wirkung potenziert. Europa muss nicht mit gefinkelten Werbestrategien "bürgernäher" werden. Es muss Strategien entwickeln, die dazu beitragen, die Krisenphänomene der Nationalstaaten zu überwinden. Ist dies der Fall, wird auch die quantitative Dimension der Macht dieses Kontinents ins Gewicht fallen.

Der Autor, Jg. 1975, ist Universitätslektor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien.

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