Diese Lyriker!

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Kaum jemand will noch Lyrik lesen - doch die Dichter dichten fleißig weiter.

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Kaum jemand will noch Lyrik lesen - doch die Dichter dichten fleißig weiter.

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Arglos besuche ich eine Ausstellung, da spricht mich der Einlasser beim Kontrollieren meiner Karte an: ob ich nicht einmal Gedichte von ihm lesen und beurteilen könne. Und ihm Tipps für Veröffentlichungen geben würde ... Auch wenn die Lyrik aus der Öffentlichkeit verschwindet, Lyriker erkennen alle Lyriker instinktiv, die schon mehr als sie verlegt haben. Im Taxi vermeide ich jedes Gespräch über Literatur, nachdem ich zweimal ein poetisches Manuskript vom Fahrer auf den Weg bekam. Den Zahnarzt wechselte ich, weil er während der Behandlung über seine Schreibprobleme reden wollte. Und im Sommer tingelt ein Bauchladenverkäufer durch die Szene-Kneipen in Berlin-Mitte, um Gedichtröllchen für eine Mark pro Text zu verkaufen. Jeder darf sich die zusammengewickelten Überraschungen ziehen: eine Schachtel mit ernsten, eine Schachtel mit heiteren Lyriklosen stehen bereit.

Alle schreiben Gedichte, wenige lesen sie. Tausende Lyriker posten ihre Werke durch das Land, faxen und mailen sich durch den Tag und die Nacht und finden nur noch Verlage, denen sie Geld für das Verlegen ihrer Gedichte zahlen müssen. Zum Lesen von Gedichten haben sie ohnehin keine Zeit mehr, die sie ganz zum Verbreiten ihrer eigenen Arbeit nutzen. Die selbstbewusstesten bilden lyrische Stammtische und belesen ein bis zweimal pro Woche ihr Publikum. Andere tun sich mit Musikern zusammen und rappen ihre Zeilen in die Öffentlichkeit.

Längst hat sich da eine ganze literarische Gattung vom Markt abgekoppelt. Und gibt die Parodie eines Dichters als Dauervorstellung in Zeiten, in denen eine Buchhandlung nur noch repräsentative Überblicksbände braucht. Und ab und zu eine Anthologie erotischer Gedichte. Begehrte Tipps sind solche nach Lektorinnen oder Lektoren, die bei dem Thema interessiert den ihnen gegenüber sitzenden lyrischen Nachwuchs mustern und zu mehr als einer Tasse Kaffee einladen. Doch auch dazu fehlt immer öfter die Zeit, die Energie und schließlich auch die Lust.

Lyriker sind verschrobene Gestalten, die nerven und einfach lästig sind. Ein renommierter Verleger gestand mir bei der Neu-Gründung seines Verlages schon vor Jahren, er dürfe in den ersten Programmen ja keinen Gedichtband veröffentlichen. Nicht wegen der Verluste, das sei zu verschmerzen - nein, wenn sich herumspräche, dass er Gedichte veröffentliche, würden tausend durch Deutschland wandernde verlagslose Manuskripte alle sein Haus erreichen, die Ablagemöglichkeiten verstopfen und die Verlagsarbeit binnen weniger Tage zusammenbrechen lassen. Selbst ungelesenes Zurückschicken oder Vernichten der Manuskripte sei eine personelle und räumliche Überforderung.

Natürlich gibt es Werbesprüche mit starken Metaphern. Natürlich besitzen Rap-Songs gelegentlich lyrische Qualitäten. Irgendwie gibt es schon ein Interesse an dem, was Gedichte waren und sein könnten. Irgendwo sucht dieses Interesse nach Formen, die mit dem Buchneuerscheinungszyklus nichts mehr zu tun haben.

Und die Lyriker, die Witzfiguren unter den Schriftstellern, werden aggressiver. Die zunehmende Einsicht in die vergebliche Utopie des eigenen richtigen Gedichtbandes setzt neue Energien frei. Bald gibt es die ersten Entführungen bei denen die Geiseln gezwungen werden, sich die Gedichte der Entführer anzuhören. Und wer hübsche Texte über die geplante Tötung aller verfasst hat, findet vielleicht sogar einen Verlag. Beim ersten Mal. Der nächste müsste schon dem Markt die Entführerlyrik bibliophil geschönt mit Originalblut gedruckt anbieten. Beim dritten Fall gähnt die Öffentlichkeit nur noch und die ersten Geiseln bestehen auf Explodieren statt sich weitere zwei Stunden Poesie anhören zu müssen. Und einem Kommentator fällt dann wieder eine Variante auf einen der meist zitierten Sätze gegen Ende des letzten Jahrhunderts ein: Wer zu spät entführt, den bestraft die Medien-Öffentlichkeit.

Der Autor lebt als Schriftsteller in Berlin. Nach eigenen Angaben quält er gerade Kinder mit seinem neuen Buch "Der Himmel ist heut blau. Lustig listige Gedichte und Geschichten" (Kinderbuch Verlag Berlin, 2000). Und Erwachsene mit der neuen vierten Auflage seiner Erzählungen "Sisyphos" (Berlin Verlag).

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