Diese Wahrheit, ganz UNVERBLÜMT

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Der britische Regie-Altmeister Ken Loach gewinnt mit "I, Daniel Blake" beim diesjährigen Filmfestival in Cannes zum zweiten Mal die Goldene Palme. Überraschend, aber nicht unverdient.

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Der britische Regie-Altmeister Ken Loach gewinnt mit "I, Daniel Blake" beim diesjährigen Filmfestival in Cannes zum zweiten Mal die Goldene Palme. Überraschend, aber nicht unverdient.

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Wenn man in Cannes über die Croisette oder die Rue d'Antibes schlendert, erinnert nichts an das, worum es hier bei der Verleihung der Goldenen Palme am vergangenen Sonntag eigentlich ging: Denn all die wohlversorgten älteren Damen mit ihren Botox-Lippen und den kleinen Handtaschenhunden, aber auch die Ferrari-Herren mit Monaco-Kennzeichen, Schläfenfärbung und Bauchansatz oder die jungen Frauen, die sich nach der Croisette-Methode ernähren (Essen-Übergeben) können nur annähernd nachvollziehen, wie es dem Gewinner dieses Festivals geht: Ken Loach, demnächst 80, hat hier mit "I, Daniel Blake" zum zweiten Mal nach 2006 die Goldene Palme gewonnen, und ja, es war ein Sozialdrama, das im Licht der Croisette immer noch wohliger aussieht als in der beinharten Realität seiner Protagonisten. Doch die Jury rund um den Regisseur George Miller ("Mad Max: Fury Road") hat sich dafür entschieden.

Es geht um den bald 60-jährigen Daniel Blake, verkörpert vom Stand-Up-Comedian Dave Johns, der seinen Tischlerberuf nach einem Herzinfarkt nicht mehr ausüben kann und dem die Ämter nur zwei Monate Genesungszeit geben. Dann macht er Bekanntschaft mit dem Sozialbetrieb, in dem er völlig durch den Rost zu fallen droht. "I, Daniel Blake" ist ein Pamphlet gegen die soziale Bürokratie und spielt in Großbritannien. Aber das könnte sonst wo sein in Europa.

Loach bedankte sich für den Preis mit einer emotionalen Rede: "Die Welt, in der wir leben, ist in einer gefährlichen Situation, weil die Ideen, die wir 'neoliberal' nennen, zu einer Katastrophe führen", so Loach. "Eine andere Welt ist möglich und sogar notwendig", zeigte sich Loach in seiner auf Französisch gehaltenen Ansprache überzeugt.

Der Hauptpreisträger der 69. Filmfestspiele an der Croisette kam überraschend, nachdem man hier etliche Tage für eine Prämierung des deutschen Wettbewerbsbeitrags "Toni Erdmann" Stimmung gemacht hatte: Maren Ades Film über eine Business-Frau in Bukarest (Sandra Hüller), deren Vater (Peter Simonischek) ihr die Augen für ihren menschenverachtenden Job öffnen will, ging weitgehend leer aus. Obwohl Ade mit allerlei dramaturgischen Klischees hantierte und Hüller in der Rolle gänzlich überzeugt, war das der Jury keinerlei Erwähnung wert.

Gleich zwei "Beste Regisseure"

Als beste Darstellerin holte stattdessen die Philippinin Jaclyn Jose die Trophäe. Die 52-Jährige erhielt den Preis für ihre Leistung in dem Anti-Korruptionsdrama "Ma' Rosa" von Brillante Mendoza, einer der stärksten Filme dieses Wettbewerbs. Er arbeitet sich an einer Gemischtwarenhändlerin ab, die im Hinterzimmer Drogen verkauft -und festgenommen wird. Dann beginnt das Feilschen: Ist die Polizei korrupt genug, um Ma' Rosa freizulassen?

Der Regiepreis wurde heuer ex aequo an zwei Filmemacher vergeben. So wurden der Franzose Olivier Assayas für seinen Film "Personal Shopper" mit Kristen Stewart und der Rumäne Cristian Mungiu für "Bacalaureat" als beste Regisseure geehrt. Letzterer gewann in Cannes schon 2007 eine Goldene Palme. Sowohl Mungiu als auch Assayas sind würdige Preisträger, auch wenn man sie nicht wirklich auf dem Plan hatte - genauso wenig wie den Siegerfilm.

Blick in die Gesellschaft

Was die Gewinner gemein haben, ist ihr Wille zur Schilderung großer Themen anhand kleiner Schicksale. Ähnlich wie der Iraner Asghar Farhadi, der mit "The Salesman" in Cannes eine intensive, mitreißende Geschichte vorlegte, die im Wettbewerb ihresgleichen suchte. Farhadi, der den Drehbuchpreis erhielt, animiert Darsteller Shahab Hosseini zu einer subtilen Höchstleistung, sodass dieser hier den Darstellerpreis abräumen konnte. Völlig zurecht wurde dieser Film zweifach ausgezeichnet: Farhadi ist ein Spezialist, in die iranische Gesellschaft zu blicken, ohne dabei politisch anklagend zu wirken; das schärft paradoxerweise die zutiefst kritische Sicht auf seine Gesellschaft.

Bleibt noch der 27-jährige Xavier Dolan aus Quebec, Kanada: Er hielt die emotionalste Dankesrede von allen, weil er den Großen Preis der Jury für seine Theateradaption "Juste la fin du monde" entgegennehmen durfte. Der als Wunderkind der Branche gehandelte Kanadier betonte unter Tränen: "Alles, was wir im Leben tun, tun wir, um geliebt und akzeptiert zu werden." Er werde sein ganzes Leben lang Filme drehen - ob er wolle oder nicht: "Ich bevorzuge den Wahnsinn der Leidenschaft gegenüber der Weisheit der Gleichgültigkeit."

Dolans Leidenschaft verdeckt aber nicht, dass das 69. Filmfestival von Cannes heuer einige großartige Arbeiten unberücksichtigt ließ: Etwa "Sieranevada" des Rumänen Cristi Puiu, der sich darin nach "The Death of Mr. Lazarescu" und "Aurora" zum dritten Mal an die Stadtränder Bukarests begibt, wo er in knapp drei Filmstunden und in gemächlicher Schnittfolge von einer Familie und Freunden erzählt, die sich in einem Apartment treffen, um dort das Andenken an das kürzlich verstorbene Familienoberhaupt hochzuhalten. Kein Crowd-Pleaser, aber Qualitäts-Kino, ebenso wie "Aquarius" von Kleber Mendonca Filho, der ein exemplarisches Kaleidoskop der gegenwärtigen brasilianischen Gesellschaft vorführt, oder Jim Jarmuschs "Paterson" mit Adam Driver als Busfahrer und Hobbyliteraten, Park Chan-wooks sublimen Thriller "The Handmaiden" und das Hochglanz-Fashion-Horrorstück "The Neon Demon" des Dänen Nicolas Winding Refn.

Cannes war immer schon ein Festival der Kontraste: Die zur Schau gestellten Filme korrespondierten in den seltensten Fällen mit den Realitäten auf der Straße: Im Kino regiert hier die Armut, auf den Straßen Protz und Prunk. Das kann eben auch Kino sein, man muss nur genau hinsehen: All der Prunk in den Autos und den Gesichtern der Bewohner weicht langsam einer Erkenntnis, die sich universeller, gesünder und auch richtiger anfühlt. Man braucht den schönen Schein nicht, um emotional gepackt zu werden: Dazu braucht es nur unverblümte Wahrheit. Insofern geht die Goldene Palme für Ken Loach völlig in Ordnung. Der Mann beherrscht seinen Job.

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