Dieses Glück des Alten Ehepaares

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Mike Leighs neuer Film "Another Year“ setzt den Best Agern ein einfühlsames Denkmal: grandioses Lebensmut-Kino mit Herz für zu kurz Gekommene.

Vom unspektakulären, aber glücklichen Leben des Middleclass-Paares Tom und Gerri erzählt Mike Leighs neuer Film "Another Year“ und über gar nicht einfache Schicksale.

Die Furche: Die Beziehung zwischen Tom, Gerri und ihrer Familie wirkt anfangs sehr erstrebenswert, zeigt sich allmählich aber beinahe grausam gegenüber Außenseitern …

Mike Leigh: Ich akzeptiere diese Meinung. Aber man könnte es auch als reinen Instinkt sehen: Tom und Gerri wollen ihre Familie schützen, ihre Integrität aufrechterhalten. Es kann und soll hier verschiedene Auffassungen geben.

Die Furche: Sozialdebatten attestieren eine Dekonstruktion der Familie. Sehen Sie diese auch?

Leigh: Absolut. Im 21. Jahrhundert ist die Familie dekonstruiert. Das ist ein sehr komplexes Thema, speziell für mich und Menschen meiner Generation. Ich wurde während des Krieges geboren und war ein Teenager in den 50ern, das zweifellos am meisten einengende und unterdrückende Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Wir konnten damals nicht verstehen, dass daran unsere Eltern schuld waren, die wiederum nichts dafür konnten, weil sie selbst durch die Hölle gegangen waren. In den 60ern ließen wir uns die Haare wachsen und kämpften uns frei - und das Wort "Familie“ war damals verpönt, wir feierten diese Zerstörung einer alten Idee.

Die aktuelle Diskussion dreht sich um Gemeinschaft, um Zugehörigkeit, um Möglichkeiten, eine Gesellschaft am Funktionieren zu halten. Gleichzeitig ist die Auflösung der unterdrückenden, einengenden, restriktiven Natur sozialer Strukturen - und das sage ich als kleiner Anarchist - auch gesund. Nichtsdestotrotz, das Thema der Isolation und Einsamkeit, das in diesem Film ja auch eine große Rolle spielt, speist sich aus dem Bedürfnis der Menschen, irgendwo dazuzugehören, wo hinzugehören - und die Möglichkeiten dafür haben sich sicher reduziert.

Die Furche: Neben der Familie spielt in "Another Year“ - wie in vielen britischen Filmen - der Alkohol eine besondere Rolle …

Leigh: Nun, ich kann nichts über Alkohol sagen, das speziell geistreich oder neu wäre. Aber es geht natürlich nicht um Alkohol, sondern um Menschen, die das Verlangen nach etwas haben, das sie den Schmerz ihrer Existenz ertragen lässt. Und es stimmt, dass die Briten sicher nicht wissen, wie man Alkohol richtig dosiert. Aber ich empfinde meine Filme nicht als speziell britisch.

Die Furche: Gemeinsam mit Ken Loach und Stephen Frears gelten Sie als Vertreter des "Free Cinema“ - sehen Sie sich auch so?

Leigh: Zu einem gewissen Grad, ja. Aber wir sind sehr unterschiedlich. Ich schätze die beiden sehr. Aus unserer Arbeit kristallisierte sich das sogenannte "British New Wave Cinema“ heraus, mit Vertretern wie Tony Richardson, Lindsay Anderson und Karel Reisz, die wiederum Spielfilme machten, die auf Theaterstücken oder Erzählungen der "Angry Young Men“-Generation von Schriftstellern basierten; sie hatten alle also einen gewissen Bühnenstil. Meine Reaktion darauf war aber, genau diese Theaterkonventionen zu brechen. Ich wollte "reines“ Kino machen, keine Adaptionen. Mir ging es darum, Material zu kreieren, auf die Straße zu gehen und zu sehen, was sich anbietet. Dieser organische Zugang ist also ein ganz anderer, als ihn die "British New Wave“ pflegte. Ich probe sehr genau, die Schauspieler müssen alles exakt proben; das gibt ihnen dann in der Szene die Freiheit, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Jedenfalls: Ken, Stephen und ich sind nun drei ältere Regisseure und es kommen viele junge, interessante nach.

Eine Existenz mit Schrebergarten

Was für Ovid und seine Epigonen recht war, ist für Mike Leigh billig: Die alte Geschichte von Philemon und Baucis hat eine aktuelle Entsprechung in Mike Leighs grandiosem Lebensmut-Kino "Another Year“. Tom und Gerri - die Anspielung auf die Katz-und-Maus-Zeichentrickfiguren der 40er-Jahre - sind ein altes Ehepaar in einer tristen englischen Vorstadt. Gerri ist Psychotherapeutin, Tom Geologe - sie beide sind ein Herz und eine Seele. In vier Jahreszeiten-Kapiteln lässt Leigh seine Protagonisten dieses "weitere Jahr“ Revue passieren, das vom Glück im Kleingarten, aber auch von der unspektakulären Meisterung alltäglicher Sorgen handelt: Die Einsamkeit von Gerris Arbeitskollegin Mary gehört ebenso dazu wie jene von Toms Bruder Ronnie nach dem Tod der Ehefrau. Schwierige Schicksale sind im Blick der von Jim Broadbent und Ruth Sheen kongenial dargestellten Best Ager, gleichwohl das Meistern des eigenen Lebens. Eine Existenz mit Schrebergarten muss ganz und gar nicht fad sein - Mike Leigh sei Dank! (Otto Friedrich)

* Das Gespräch führte Alexandra Zawia

Another Year

GB 2010. Regie: Mike Leigh. Mit Jim Broadbent, Ruth Sheen.

Verleih: Filmladen. 129 Min.

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