Dimensionen einer jungen Existenz

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Keine intellektuelle Biographie, die sich vor den Kulissen der böhmischen Metropole abspiele, sei verständlich ohne die Geschichte dieser Stadt, meint Kafka-Biograph Reiner Stach und erzählt deshalb beides: Franz Kafkas "frühe Jahre" und Prager Kulturgeschichte.

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Keine intellektuelle Biographie, die sich vor den Kulissen der böhmischen Metropole abspiele, sei verständlich ohne die Geschichte dieser Stadt, meint Kafka-Biograph Reiner Stach und erzählt deshalb beides: Franz Kafkas "frühe Jahre" und Prager Kulturgeschichte.

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Mehrteilige Epen erblicken das Licht der Welt manchmal in unorthodoxen Reihenfolgen. Dass der vierte Teil der "Star Wars"-Reihe als erster erschien, lag unter anderem daran, dass niemand einen großen finanziellen Erfolg erwartete und unklar war, ob jemals mehr als ein Abschnitt verfilmt werden könnte. Auch Reiner Stach hatte gute, wenngleich gänzlich andere Gründe, den ersten Band seiner monumentalen, nun abgeschlossenen Kafka-Biographie ans Ende zu stellen. "Kafka. Die frühen Jahre" deckt den Lebensabschnitt ab, zu dem bereits Jahre zuvor nahezu alle bekannten Quellen ausgewertet und in Biographien veröffentlicht waren, vor allem von Klaus Wagenbach, aber auch von Hartmut Binder. Bereits in der Einführung zum zuerst erschienenen zweiten Band seiner Biographie schrieb Stach daher, es gelte, zu warten, bis der "Nachlass des langjährigen Freundes Max Brod [...] endlich der Forschung zugänglich würde", bevor man eine neue Biographie von Kafkas Kindheit und Jugend vorlegen könne. Es sei "unverantwortlich und für den Biographen ein wenig motivierendes Unternehmen, auf einer Wissensbasis zu arbeiten, die in absehbarer Zeit beträchtlich erweitert und dadurch wiederum revisionsbedürftig wird. Und mit einem Provisorium, das lediglich den Zweck erfüllt, die chronologische Ordnung zu wahren, wäre wohl auch dem Leser nicht gedient."

Stach konnte damals nicht ahnen, dass der Konflikt um Brods Nachlass nicht nur andauern, sondern sogar noch komplexer werden würde; mittlerweile streiten Brods Erbin, der Staat Israel und das Deutsche Literaturarchiv um den nach wie vor teilweise unbekannten Inhalt einiger Schließfächer. Und weil mit dem Abschluss der Biographie nicht noch länger gewartet werden konnte, wurde "Kafka. Die frühen Jahre" trotz allem begonnen und vor kurzem abgeschlossen.

Neu, anders und spannend

Kennt man diese Vorgeschichte, fällt auf, dass der Buchumschlag jenem des anerkannten Standardwerks, nämlich der 2006 erschienenen Neuausgabe von Klaus Wagenbachs "Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend", zum Verwechseln ähnelt, bis hin zum selben verwendeten Jugendfoto Kafkas. Derlei passiert wohl kaum zufällig. Jedenfalls signalisiert bereits dieses selbstbewusste Erscheinungsbild, dass es sich hier um kein "Provisorium" handelt.

Und tatsächlich ist Stachs Herangehensweise eine fundamental andere als jene Wagenbachs: Wo dort Fakten von Anfang an dominieren, wird hier in epischer Breite erzählt; wo dort eine Jahreszahl auf die andere, ein Name auf den nächsten folgt, werden hier große Zusammenhänge ausgebreitet. Infolge der schwierigen Ausgangsposition hat Stach somit einen Weg gewählt, der seine Biographie, zumindest in den ersten Kapiteln, tatsächlich neu, anders und spannend erscheinen lässt. Sein Buch baut auf dem Datenmaterial auf, das Wagenbach, Binder und andere angesammelt und ausgebreitet hatten; Stach kann daher weiter ausholen, ohne sein eigenes profundes Detailwissen bei jeder Gelegenheit präsentieren zu müssen. Es geht ihm, wie er bereits in der Einführung zum zweiten Band ausführte, um "die gleichsam horizontale Dimension, die soziale Ausdehnung einer Existenz".

Kafka im Kontext

In "Kafka. Die frühen Jahre" folgt Stach dieser Vorgabe und macht aus seiner Not der einerseits grundsätzlich dürftigen, andererseits längst anderswo ausgebreiteten Quellen eine Tugend, indem er Kafka in alle Richtungen hin kontextualisiert. Aber es bleibt nicht bei der "horizontalen Dimension", vor allem am Beginn des Buches werden Hauptfigur und Familie in historische, soziale, religiöse, kulturelle Zusammenhänge eingebettet, die viel mehr zeigen als bloß "eine Existenz"."Keine intellektuelle Biographie, die sich vor den Kulissen der böhmischen Metropole abspielt, ist verständlich ohne die Geschichte dieser Stadt und ihrer Region", schreibt Stach und begründet damit die vorübergehende Marginalisierung seiner Zentralfigur: Auf den ersten fünfzig Seiten, die eher wie eine Kulturgeschichte Prags anmuten, wird Kafka keine fünf Mal namentlich erwähnt.

Der Nutzen dieser Methode erweist sich spätestens dann, wenn Stach gerade aus der genauen Darstellung dieser Kontexte neue, bislang unbekannte Erkenntnisse in Bezug auf Kafkas Kindheit gewinnt, wie etwa die tatsächliche Bedrohung der Familie durch den aufkeimenden Antisemitismus in Prag. Diese "Distanz" zur Hauptperson erweist sich als produktiv und als Stärke des Buches.

Vor allem die Einbettung von Kafkas Literatur ist gut gelungen; selbst ein so schwieriger Text wie die "Beschreibung eines Kampfes" wird weder anhand ihrer komplexen Rezeptionsgeschichte gewogen und abgeurteilt, noch lässt sich Stach selbst auf gewagte Interpretationen ein. Mittels genauer Beobachtung, exakter Lektüre und Konzentration auf wenige zentrale Details gelingt die Annäherung an das Forschungsobjekt Kafka, das im Buch zwar als "Jahrtausendautor" oder "globaler Klassiker der Moderne" bezeichnet, dennoch aber nie mythisch verklärend auf einen Sockel gestellt wird.

Wenn Stach einmal über Kafka schreibt, dieser habe Biographien gelesen, um zu "verstehen, auf welche Weise Kunstwerke höchsten Ranges aus äußerlich unscheinbaren Lebensumständen hervorgehen", dann trifft das wohl auch die Intentionen des Biographen. Gerade weil Stach aber weder die Genialität der Kunstwerke noch die Unscheinbarkeit der Lebensumstände überbetont, gelingt ihm ein differenziertes Bild.

Nach 18 Jahren abgeschlossen

Nur an wenigen Stellen erscheinen Stachs Interpretationen weit hergeholt -dies vor allem, wenn er tatsächliche oder vermeintliche Wesenszüge Kafkas psychologisch herzuleiten versucht. Doch derlei Details mindern die Freude an der Lektüre kaum. Somit bleibt als Kritikpunkt einer, der eigentlich keiner ist: Im Verlauf des Buches -und parallel zur immer besser werdenden Quellenlage -verändert sich der Erzählstil von der Kulturund Sozialgeschichte hin zur klassischen Biographie. Und unversehens beginnt man die anfangs so großzügig ausgebreiteten Kontexte ein wenig zu vermissen: Es wäre großartig, auch zu Kafkas Reisen oder zu den Prager Kaffeehäusern alle Hintergründe mitgeliefert zu bekommen! Doch vermutlich würde dies zum einen den Rahmen sprengen, zum andern ein weiteres wichtiges Ziel verfehlen lassen: Die drei Biographie-Bände sollen als eine einzige, zusammenhängende lesbar sein. Und dies gelingt Stach trotz der achtzehn Jahre, die seit Projektbeginn verstrichen sind.

Stachs Erzählung des Lebens Kafkas macht auf jeden Fall Appetit auf mehr, und vielleicht folgen ja nun, da der erste Teil abgeschlossen vorliegt, erweiterte Neuausgaben der anderen -analog zu "Star Wars" -, als Special Edition, digitally remastered? Man wird sich ja noch was wünschen dürfen!

R. Stach: Kafka. Die frühen Jahre Moderation: Manfred Müller 20.5.2015,19.00 Uhr, Österreichische Gesellschaft für Literatur, www.ogl.at

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