Dokumente vom Ende mit Schrecken

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Fritz H. Sturzeis und seine Sammlung von Feldpostbriefen, Karten, amtlichen Schriftstücken und Fotos vom Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wir sind geboren, um für Deutschland zu sterben!" verkündete ein Wandspruch in einem Heim der Hitlerjugend. Und Propagandapostkarten deuteten auch an, wie: "Jugend im Luftschutz": ein Vierzehnjähriger mit Gasmaske, Beil und Wasserspritze. Oder: "Wir alle helfen mit - Kriegseinsatz der Hitlerjugend".

Sie begannen mit dem Einsammeln von Textilien und Altmetall, sie räumten Schutt nach Bombenangriffen, sie ließen sich an Gewehr und Panzerfaust ausbilden und standen als Helfer an der Fliegerabwehrkanone.

"Wir füllen die Lücken auf - Hitler-Jugend an die Front!" hieß es in einem Flugblatt, als schon alles in Trümmern lag und die Jüngsten vom Jahrgang 1929 noch sowjetischen und amerikanischen Panzern Widerstand leisten sollten.

Wandsprüche, Plakate, Flugblätter, Aufrufe, amtliche Mitteilungen - und immer wieder Briefe. Gerade sie erzählen plastischer als alle wissenschaftlichen Analysen, wie es zuging in den letzten Wochen des Krieges und in den Monaten danach. Fritz Sturzeis, Oberschätzmeister in der Briefmarkenabteilung des Dorotheums, Jahrgang 1943, hat sie gesammelt, zunächst als Belege für die Aktivitäten der deutschen Feldpost, für die er als Experte zuständig ist, dann fasziniert vom Inhalt, von den menschlichen Tragödien, die sie erzählen.

"Brut der Feinde"

"Du schreibst, daß ich mir das Ende schon im vorigen Jahr gehofft habe", heißt es im Brief eines SS-Mannes aus Oberkrain vom 12. Februar 1945. "Freilich, es wäre ja schon an der Zeit. Mir scheint, wir sind schon 5 Minuten nach 12 vorbei. Urlaub gibts keinen, da muss ja doch das andere kommen. Alles hat sein End, und dieses Menschenschlachten will kein End nehmen ..."

Die defaitistischen Bemerkungen, die Ortsangabe - wenn dieser Brief kontrolliert worden wäre, wäre es für den Absender eng geworden. Aber wer seit fünf Jahren an der Front stand, wusste, wie er die Zensur umgehen konnte: mit der Zivilpost schicken, sobald man sich auf Reichsgebiet befand (was auch verboten war), die Feldpost der Verbündeten benützen oder den Brief einem Urlauber mitgeben.

Die "alten Krieger" waren längst desillusioniert. Die Jungen glaubten noch an das, was man ihnen einbläute. "So führen wir trotz Not und Tod allen Berechnungen der Feinde zum Hohn unsern heiligen Krieg weiter, bis einst die Brut der Feinde vor der Gerechtigkeit unserer Sache ihre Fahnen in den Staub sinken läßt", schwelgt ein junger Offiziersbewerber in einem Brief an seinen Onkel noch am 5. März 1945.

Ausgebrannt

Die "alten Krieger" erzählen wenig von dem, was sie "draußen" vor dem Feind bewegt, umso mehr von ihren Sorgen um die Lieben daheim, wo die Bomben fallen. Und immer wieder wird der Schock deutlich, wenn von zuhause berichtet wird, daß wieder einer der alten Freunde, die ebenfalls "draußen" stehen, gefallen ist. Die Todesanzeigen in den wenigen noch erscheinenden Zeitungen werden immer mehr, die Floskel "Für Führer, Volk und Vaterland" wird immer seltener. Die Fronttruppen sind im Frühjahr 1945 so ausgebrannt, dass nicht nur die Jungen aus der Hitlerjugend einspringen müssen. Die Alten, die eigentlich schon jenseits der Altersgrenze stehen, müssen in den Volkssturm, das letzte Aufgebot. Die Propaganda erinnert an die Aufstände gegen Napoleon, fast 130 Jahre früher. Und so manchen "Goldfasan", so manchen Parteifunktionär, der bisher, "unentbehrlich" an der "Heimatfront", die Moral der Zivilbevölkerung überwachen durfte, erwischt es jetzt beim Volkssturm, da die Sowjettruppen aus Ungarn in die Steiermark vorstoßen.

Bretter ohne Stroh

"Diese Karte schreibe ich aus Pressburg, wo wir sind 10 Mann in Ausbildung als Instruktore", berichtet ein Volkssturmmann seiner Julinka am 30. Jänner 1945 aus Engerau, dem seit 1939 an das Deutsche Reich angeschlossenen Brückenkopf Petrzalka gegenüber der slowakischen Hauptstadt. "In Ausbildung sind slowakische Soldaten, Deutschen, HJ und wir ,Volkswürmer'. Es ist kein Honig. Wir müssen mit die Jungen alles mitmachen ... Heute war riesiger Sturm, 22 Grad Kälte. Bis zum Knie im Schnee, das ist ein Vergnügen! Hungrig, ausgefroren kommen wir in die Kaserne wo sind die Fenster ausgehaut bei Bombenangriff. Heizen können wir nicht und schlafen auf Bretter ohne Stroh. ... Da ist jeder Wurm begeistert wie die Zeitungen schreiben ..." Mit den Todesmärschen von Engerau, den Massenmorden, die gerade dort stattfanden, hatte dieser Briefschreiber sicher nichts zu tun.

Und dann war es endlich wirklich zu Ende. Am 29. April, noch vor Hitlers Selbstmord, kapitulierte die deutsche Italienarmee. Am 6. Mai funkte noch Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner als Chef der Heeresgruppe in Böhmen an seine Truppen: "Der Krieg geht seinem Ende entgegen ... gilt es, solange weiterzukämpfen, bis wertvollste deutsche Menschen geborgen sind. Unsere Disziplin und unsere Waffen in der Hand sind für uns das Unterpfand, anständig und tapfer aus diesem Kriege zu gehen. Unsere Ehre und der Heldentod so vieler unserer Kameraden verpflichten uns dazu ..." Worauf er sich in Zivilkleidung nach Bayern absetzte, während immer noch fliegende Feldgerichte Deserteure aufstöberten und an Alleebäumen aufhängten, bevor sich auch die Ostfront in Böhmen am 9. Mai ins Chaos auflöste.

Bekanntmachungen, Lebensmittelkarten, Abrechnungslisten, Arbeitsbescheinigungen, Urkunden, Plakate, Zeitungsberichte, Bezugsscheine, viele Fotos, private und offizielle, und immer wieder Briefe - Geschichte von unten, von der Basis, wie die Menschen diese Wochen vor und nach der Kapitulation und der Wiedererrichtung Österreichs wirklich erlebt haben.

Dem ersten Band sollen noch zwei weitere folgen, um die Fülle des Materials bewältigen zu können. Was tut's, dass so mitunter die Grenzen der Kapitel verschwimmen, Überschneidungen, Wiederholungen vorkommen. Was tut's auch, dass die Einleitungen der Kapitel oder die Zuordnung der Bilder etliche sachliche Fehler aufweisen und erkennen lassen, dass der Autor die geschilderte Zeit gut nachempfunden, aber nicht selbst miterlebt hat.

Der junge Mann mit dem Totenkopf am Kragenspiegel (siehe Bild) war zum Beispiel weder freiwillig noch unfreiwillig in der SS, sondern Panzersoldat. Die Lektüre der Belege sagt mehr als alle Erklärungen. Die Philatelie wird zur Geschichtsforschung.

ÖSTERREICH 1945 - Drittes Reich, Kriegsende, Zweite Republik

Langersehnte Nachrichten und ausgewählte Dokumente von Menschen, die es erlebt haben. Erster Band. Von Fritz Sturzeis. Verlag Pollischansky, Wien 2001. 512 Seiten, geb., e 108,25.

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