"Don Quijote täuscht sich nicht"

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Satire auf Ritterromane? Ja, aber noch viel mehr: Mit seinem berühmtesten Werk hat Miguel de Cervantes 1605 einen auffallend modernen Roman veröffentlicht.

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Satire auf Ritterromane? Ja, aber noch viel mehr: Mit seinem berühmtesten Werk hat Miguel de Cervantes 1605 einen auffallend modernen Roman veröffentlicht.

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"Unbeschwerter Leser, auch ohne Eid darfst du mir glauben, wie sehr ich mir wünschte, dies Buch, dies Kind meines Geistes, wäre das schönste, stolzeste und klügste, das man sich nur denken kann." Mit diesen Worten beginnt Miguel de Cervantes seinen 1605 erschienenen Roman "Don Quijote von der Mancha". Die Superlative, hier noch in Wunschform, werden das Werk über Jahrhunderte tatsächlich begleiten. Eines "der grandiosesten und zugleich entzückendsten Bücher aller Zeiten" nannte Hermann Hesse Cervantes' "Don Quijote" und Fjodor Dostojewksi notierte in seinem Tagebuch, dass der Menschheit in mehreren Jahrhunderten von solchen Büchern nur eines geschenkt werde. Heinrich Heine sah in ihm die größte Satire auf die menschliche Begeisterung und Friedrich Nietzsche die herbste Lektüre, denn die Geschichte erzähle vom tragischen Scheitern eines Idealisten.

Superlative über Superlative über ein Werk, das zu den meistgelesenen der Weltliteratur gehört und bereits im 18. Jahrhundert in 68 Sprachen übersetzt worden war. Die Künstler, die diese Literatur weiterleben ließen, sind ebenso Legion wie die Interpretationen durch Literaturwissenschaft und Philosophie. Don Quijote hat ganze Bibliotheken hervorgebracht und wird es wohl weiterhin.

Anders sehen

Der "verrückte" Leser Don Quijote lebt jene Werte, die in der Welt der nach außen hin glänzenden Großmacht Spaniens verloren gegangen sind, nämlich Ritterlichkeit, Mut, Tapferkeit, Ehre und Schutz der Armen. "Don Quijote täuscht sich nicht. Er idealisiert Dulcinea, aber in einer überraschenden Passage gesteht er ein, daß Dulcinea das stramme Bauernmädchen Aldonza ist. Aber macht es nicht die Qualität der Liebe aus, daß sie fähig ist, die Geliebte zu etwas Unvergleichlichen zu machen, so daß es unerheblich ist, ob sie reich ist oder arm, gewöhnlich oder von edlem Geblüt?", betonte der Schriftsteller Carlos Fuentes Quijotes besondere Kraft. Der Ritter lässt anders sehen, seine Phantasie vermag die Wirklichkeit tatsächlich zu verändern.

Wäre "Don Quijote" nur eine Satire auf die zeitgenössische Ritterliteratur und die Auswirkung von Lektüren auf die Gehirne von Lesern, hätte der Text wohl nicht eine solch enorme Wirkungsgeschichte erfahren. Der Roman signalisiert einen großen Umbruch, thematisiert die Verunsicherung der Gewissheit darüber, was Wirklichkeit ist, und er tut das mit modernen formalen Mitteln. Das fällt schon beim Vorwort auf, in dem Cervantes bzw. der Erzähler dem Leser das Recht zuspricht, mit dem Text machen zu können, was er will, und in dem er auch vorführt, wie Quellenzitate erfunden werden können. Vieles lässt Cervantes spielerisch im Ungewissen: Autor, Namen, Orte. Cervantes tritt -wie später Alfred Hitchcock in seinen Filmen -selbst als Figur in seiner Geschichte auf, etwa als Autor der "Galatea" und als geheimnisvoller Reisender, der seine Manuskripte im Wirtshaus vergisst.

Neue Ungewissheit

Die dem Roman zugrundeliegende und von ihm angezielte Verwirrung von Realität und Fiktion nimmt vor allem im zehn Jahre später verfassten zweiten Teil zu. Inzwischen ist eine Fortsetzung des erfolgreichen Romans aus fremder Feder im Umlauf. Diese ärgerliche Erfahrung baut Cervantes ein: Don Quijote ist inzwischen berühmt und trifft auf Menschen, die seine Abenteuer gelesen haben und den Roman diskutieren.

Auch wer im Don Quijote eigentlich erzählt, ist alles andere als klar. "Ich lese einen Roman, ich lese eine wahre Geschichte, ich lese die Übersetzung einer wahren Geschichte, ich lese eine korrigierte Tatsachendarstellung", schrieb Alberto Manguel in seiner "Geschichte des Lesens" Cervantes die "Erfindung des Lesers" zu. Romanciers wie Laurence Sterne werden diese Art der Leseranrede und -beteiligung später meisterhaft weitertreiben.

Literarische Spiele wie diese sind aber nicht einfach "nur" Spiele im Sinne einer Irreführung des Lesers, sie erzählen die Verunsicherung über eine angeblich mit Sicherheit gewusste Wirklichkeit, ziehen die Leser mitten in sie hinein. Auch die vermeintlich scharf gezeichnete Polarität -hier Don Quijote, da Sancho Panza - im Sinn von hier Traum, da Realitätssinn, verschiebt sich im Lauf der beiden Bände allmählich. Das erinnert an einen Zeitgenossen von Cervantes, William Shakespeare, der auch - etwa in seinem Drama "König Lear" - das vermeintlich sichere Schema Weiser/König und Narr verschiebt. Beide, Miguel de Cervantes und William Shakespeare, haben auf je eigene und außerordentliche Weise auf die neue Ungewissheit reagiert, mit Literatur, die bis heute nichts an Kraft verloren hat.

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