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Wie der Roman-Bestseller und der Hollywood-Film die afghanische Wirklichkeit krass und kitschig verfälschen.

Sie fliegen, kämpfen miteinander, stürzen ab und werden gejagt: Die Drachen, ihre Flieger und Läufer in Kabul, die jetzt auch in unseren Kinos aufeinander losfliegen. Der Welterfolg des als großartig und erschütternd empfundenen Romans "The Kite Runner" ("Drachenläufer") von Khaled Hosseini, einem noch jungen, in Kalifornien etablierten afghanischen Flüchtling, hat prompt zur Verfilmung geführt.

Der reißerische Inhalt des Romans ist freilich auch bestens "Hollywood-geeicht". Der versierte Regisseur Marc Forster, nunmehr auch zuständig für neue James Bond-Verfilmungen, hat die "so schöne menschliche Geschichte" (Forster im ORF-Interview) hauptsächlich mit afghanischen Buben und Schauspielern filmisch umgesetzt. Dabei wurden die meisten der in Kabul spielenden Szenen in Kashgar, im äußersten Westen Chinas, gedreht. Als die Kunde von jener Vergewaltigungsszene unter Buben, die im Roman eine Schlüsselstellung einnimmt und deshalb dargestellt werden musste, Kabul erreichte, war die Empörung allgemein und besonders unter den betroffenen Familien groß. Drei 11- bis 14-jährige Jungen mussten samt ihren Familien außer Landes in Sicherheit gebracht werden, bevor der Film in den USA anlief. In den Medien wurde darüber laufend berichtet, was der Produktionsfirma nur recht sein konnte. In Afghanistan ist der Film verboten.

Weltweiter Bestseller

Nach seinem Erscheinen 2003 - damals gleichzeitig in 12 Sprachen und inzwischen in 42 Sprachen übersetzt und 40-millionenfach verkauft - erregte der Roman als hoch gepriesener Bestseller weltweit Aufsehen und Mitgefühl für afghanische Schicksale. Dabei geht es eingangs, dem Titel gemäß, um das im Winter in Kabul vor allem unter Buben sehr beliebte Drachensteigen, mit dem sich freilich ausschließlich Kämpferisches verbindet. Stets werden die Schnüre mit Glassplittern beklebt, mit denen man, geschickt den eigenen Drachen lenkend, die Schnüre anderer Drachen kappen kann. Zum Absturz gebrachte Exemplare werden gern gesucht oder "erlaufen", sofern sie nicht zerrissen oder unerreichbar in einem ummauerten Garten oder auf einem Baum gelandet sind.

Der Roman basiert auf der Freundschaft des 12-jährigen Amir aus gut situierter Familie mit Hassan, dem gleichaltrigen (angeblichen) Sohn des Dieners im Hause Amirs, sowie auf der Feindschaft zwischen den beiden Buben und dem bösartigen und anmaßenden, etwas älteren Assef aus der Nachbarschaft, der als junger paschtunischer Herrenmensch auftritt und mit seinem Schlagring für Terror sorgt. Mit den drei Buben sind auch die drei in Kabul wichtigen Ethnien vertreten: die urbanen Tadschiken, die allgemein verachteten Lastenträger und Hausdiener der mongoliden Hazara sowie die eher aggressiven und herrischen Paschtunen (aus denen vor allem sich später die Taliban rekrutierten). Als bei einem groß organisierten Wettkampf Amir einen Drachen nach dem anderen erledigt, sendet er seinen Freund Hassan aus zum "Drachenlaufen".

Vergewaltigung unter Buben

Der glücklich mit erbeuteter Trophäe zurückeilende Hassan wird jedoch von Assef, unterstützt von zwei Kumpanen, gestellt und brutal vergewaltigt. Auf der Suche nach seinem verspäteten Freund wird Amir Zeuge der Untat, schreitet aber aus Feigheit nicht ein. In der Folge scheut er jeden Kontakt mit Hassan, vertreibt ihn sogar zusammen mit dessen Vater aus dem Haus, indem er ihn eines fingierten Diebstahls überführt. Daraus entwickelt sich eine hochdramatische, mit schrecklichen Erlebnissen überfrachtete Geschichte, die trotz ihrer sehr kühnen Konstruktion und krassen Unglaubwürdigkeit die Welt jahrelang empörte und zu Tränen rührte, bis Hosseinis kürzlich erschienener zweiter Roman "Tausend strahlende Sonnen" breite Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der dramatische Höhepunkt des Romans ist die Konfrontation zwischen Assef, inzwischen ein mächtiger Mann im Dienst der Taliban in Kabul, und dem von Schuldgefühlen getriebenen Romanhelden Amir, der nach der Flucht vor Krieg und Kommunismus in die USA, in das weithin zerstörte Kabul zurückkehrt, um nach dem Sohn Hassans zu suchen, nachdem er von dessen Tod erfahren hat.

Steinigung in Kabul

Die Suche führt ihn in das Stadion von Kabul, wo er Zeuge der Steinigung eines ertappten Liebespaares unter der Oberaufsicht des (von ihm noch nicht erkannten) Talib Assef wird. Beim Zusammentreffen in dessen Haus, wo sich Assef den Sohn Hassans, Sohrab, als Lustknaben hält, erkennt Assef seinen ehemaligen Feind und fällt über ihn her, um ihn mit einem Schlagring zu erschlagen. Der vorher als Tanzknabe vorgeführte Sohrab greift gerade noch rechtzeitig zu einer Steinschleuder, die er im Bund seiner Hose hat, und schießt eine "aus dem Ring des Tischgestells" ergatterte "Messingkugel" aus nächster Nähe so scharf auf das linke Auge Assefs, dass die Kugel in der Augenhöhle festsitzt.

In der darauffolgenden Verwirrung gelingt den beiden die Flucht nach Pakistan. Dort begeht Sohrab einen Selbstmordversuch aus Angst, vorübergehend in einem Waisenhaus zu landen. Er überlebt nur mit knapper Not. Seine düsteren Gedanken verfliegen erst, als die beiden, längst in Kalifornien angekommen, Drachen fliegen lassen. Amir wird daraufhin selbst zum Drachenläufer, um einen gerade gekappten "Superdrachen" für Sohrab zu sichern.

Der Roman ist flüssig und konventionell erzählt, aber die vielen Klischees, Verfälschungen, unwahrscheinlichen Begebenheiten und die drei Rettungen im allerletzten Moment (von Amirs Vater, Amir selbst und Sohrab) charakterisieren ihn als ein Produkt der heutigen Eventkultur, das man als billiges, rein kommerziell ausgelegtes und bestens Hollywood-taugliches Machwerk zur Seite legen möchte. Auch die Dialoge der Afghanen gleichen weitgehend jenen von westlich Gebildeten, für die das Buch ja auch geschrieben ist. Dämonisiert und geweint wird so ausgiebig, dass man den Eindruck hat, hier werden bewusst die Gefühle des Lesers manipuliert.

Absurd konstruierte Flucht

Zu den vielen Verfälschungen gehört der organisierte Wettkampf von Drachenläufern in Kabul. So etwas hat es nie gegeben. Man staunt auch über die Erwähnung von Palmen in Kabul, und die geschilderten Umstände der Flucht vor den Kommunisten aus Kabul nach Pakistan ist voller dramatischer oder absurder Vorfälle. Die Flucht findet zum Teil in einem Tankwagen statt, in dem alle Insassen mit dem Ersticken kämpfen und auch ein Bub stirbt (worauf sich sein Vater erschießt). Man muss wissen, dass die Flucht aus Afghanistan nie ein großes Problem darstellte.

Erfunden ist die Steinigung eines verurteilten Liebespaars durch die Taliban in Kabuls Stadion; hier wurde jene heimlich gefilmte Erschießung einer Frau durch die Taliban im Stadion, die damals größte internationale Empörung auslöste, zwecks zusätzlicher Dramatisierung und Dämonisierung der Taliban adaptiert; kitschig darauf abgestimmt wurde die Rolle Assefs als Scharfrichter. Mehr als kühn ist auch die Rettung Amirs durch die Kugel aus Sohrabs Steinschleuder, die plötzlich wie hergezaubert vorhanden ist - wenn man nicht annimmt, dass versklavte Lustknaben eine Steinschleuder in ihrem Gewand verstecken können. Völlig unglaubwürdig ist auch Sohrabs Suizidversuch so bald nach seiner Rettung aus den Händen des Talib, abgesehen von der sehr "westlichen" Methode von Schnitten ins Handgelenk und der Seltenheit von Suiziden aus Verzweiflung oder Scham bei Buben und Männern in der islamischen Welt.

Erfolg trotz Verfälschung

Fast beiläufig erwähnt wird die wesentliche Tatsache, dass die Taliban auch das Drachensteigen verboten hatten, das - wie alle Vergnügungen mit Ausnahme von Fußball - als Ablenkung von den religiösen Pflichten und Einstellungen verdammt wurde.

Trotz aller Verfälschungen war es ein unglaublicher Welterfolg und es gab tief beeindruckte Leser, sogar unter Afghanistan-Kennern. Dies alles erklärt sich nur aus der unermesslich traurigen afghanischen Tragödie, die aus einer ehemaligen "Legende Afghanistan" einen schrecklichen "Alptraum Afghanistan" gemacht hat. Die Tragödie Afghanistans eignet sich offensichtlich als sicherer Bestseller-Appeal. Vermutlich hat ein landfremder Ghostwriter mit viel Wissen um Medienwirksamkeit den Roman maßgeblich mitverfasst.

Was der überlange Film daraus gemacht hat, ist teilweise sehr erträglich, da viele Dialoge in der afghanischen Landessprache Dari (lokales Persisch) gehalten werden und das Ambiente von Kabul mit Hilfe der Altstadt von Kashgar ganz gut wiedergegeben wird. Die Szenen im Stadion und dann im Haus Arefs sind freilich schrecklich, und die anschließende Flucht löst eine (dazu erfundene) Hollywood'sche Verfolgungsjagd aus. Der absurde Selbstmordversuch fehlt, die Szenen unterwegs in Afghanistan und an den Grenzübergängen sind geradezu lächerlich. Was am besten gefällt, sind die so plötzlich über die Kinoleinwand jagenden, von oben gefilmten farbenprächtigen fliegenden Drachen.

Der Autor ist Dozent an der Uni Wien und publiziert seit den 1960er Jahren über Afghanistan.

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