"dulden heißt beleidigen"

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Ein Brief an den Geheimrat Goethe in Weimar über Orient und Okzident, Obrigkeit und Revolution, über Bewunderung und Irritationen, abgefasst von said.

Sehr geehrter herr geheimrat, das erste mal, als ich auf Ihren namen stieß, war ich 6 jahre alt; seither sind mehr als 50 jahre vergangen. die straße, die zu meiner schule führte, hieß goethe-straße. sie liegt in einem altehrwürdigen teheraner stadtteil, kein reiches viertel. damals lebten dort teheraner alteingesessene. ich selbst bin nun mehr als 28 jahre nicht mehr dort gewesen; die islamische revolution hat auch mich verscheucht wie viele andere. aber man erzählt mir, daß jener stadtteil vollkommen seinen charakter verloren hat - wie die stadt selbst und wie das land auch.

auf dem weg zu meiner schule, kaum daß ich Ihren namen buchstabieren und lesen konnte, fragte ich meinen vater, was dieses wort bedeutet? mein vater antwortete kurz: er war ein großer deutscher dichter, und fügte stolz hinzu, goethe sei ein bewunderer von hafiz gewesen, unserem hafiz. natürlich hatte ich nichts von hafiz gelesen. aber ich hatte oft gesehen, wie mein vater seine hände gewaschen hatte, bevor er den "diwan" von hafiz berührte, ihn dann an den mund führte und ehrerbietig küßte, bevor er ihn aufschlug. das kind "wußte" also, goethe ist gut; mindestens so gut wie unser hafiz.

dann hörte ich lange nichts von Ihnen. in der schule wurde die deutsche literatur nicht erwähnt. alles, was ich damals über deutschland wußte, waren zwei dinge: dort hat es einmal einen hitler gegeben, und die deutschen haben die besten ingenieure der welt; das letztere behauptete zumindest mein vater. das buch jenes adolf hitler lag übrigens vor, in einer gekürzten ausgabe; nichts aber von diesem goethe. und in den jahren vor dem abitur, anfang der sechziger jahre, als ich mich der literatur widmete, war kein deutscher autor präsent in teheran (nur schiller mit seiner "jungfrau von orleans" in einer übersetzung aus dem jahre 1941). erst viele jahre später wurde der "faust" ins persische übersetzt, aus dem französischen (sic!). der übersetzer, ein jurist, der viele jahre seines lebens aufgrund seiner politischen überzeugungen in gefängnissen und der verbannung zugebrachte hatte, antwortete einmal auf die frage eines freundes, warum er den "faust" aus dem französischen übersetzt habe: "ich liebe den ,faust', kann aber kein deutsch." diese ebenso bewunderswerte wie höchst problematische logik beherrscht auch heute die ethik der iranischen publizistik.

erst als ich 1965 nach deutschland kam, geriet ich in berührung mit der deutschen literatur - vor allem aber mit der modernen. es hat eine weile gedauert, bis ich mich zu den klassikern durchringen konnte. das erste buch, das ich von Ihnen gelesen habe, war natürlich "der west-östliche diwan"; für einen iraner fast eine pflichtlektüre - das war anfang der siebziger jahre. ein deutscher klassiker geht unserem hafiz entgegen - "gestehen wir ein, die dichter des orients sind größer" - und schlägt eine kulturelle brücke zwischen zwei welten.

aber, sehr geehrter herr geheimrat, heute gibt es keinen westen und keinen osten. der okzident ist nur mehr mit sich selbst beschäftigt. und der orient gibt seinen charakter auf, um eben diesen okzident nachzuäffen. und was von jenem orient übrig geblieben ist, mißversteht Sie, sehr geehrter herr geheimrat, gründlich und permanent. seit dem sieg der islamischen revolution ist es mode geworden, alle errungenschaften des okzidents auf einen orientalischen ursprung zurückzuführen. professionelle schreiberlinge beweisen tagtäglich, daß sowohl die atombombe als auch die moderne medizin ohne islamische vordenker nicht möglich gewesen wären. avicenna wird oft bemüht - um nur ein beispiel zu nennen -, der in europäischen büchern übrigens als islamischer philosoph deklariert wird. (ich habe nie begriffen, was ein islamischer denker ist! ist etwa eduard mörike ein christlicher dichter? oder christoph willibald gluck ein katholischer musiker?) wer aber Ihre haltung zu einer bloßen aufrechnung degradiert und dann den beweis sucht, der okzident sei kulturlos, der beweist nur, daß er nichts verstanden hat von jener erhabenen haltung, die ihren "diwan" geprägt hat - weit entfernt von der heute vorherrschenden gönnerhaftigkeit gegenüber nichteuropäischen intellektuellen. jene gönnerhaftigkeit, die Sie, verehrter herr geheimrat, so gründlich abgelehnt haben: "toleranz sollte nur eine vorübergehende gesinnung sein; sie muß zur anerkennung führen. dulden heißt beleidigen." kulturen stützen sich gegenseitig, selbst und erst recht, wenn sie sich bekämpfen; niemand hat das besser begriffen und dargestellt als Sie.

im gegenzug gibt es natürlich auch deutsche intellektuelle, die stets behaupten, im orient habe es kein zeitalter der aufklärung gegeben, und darin liege seine misere. als ob die aufklärung Ihre landsleute daran gehindert hätte, zwei weltkriege anzufachen und millionen menschen zu vernichten. die einen bedingen die anderen, beide bekämpfen sich munter; auf der strecke bleibt jene brücke, die Sie, verehrter herr geheimrat - aber nicht nur Sie - gebaut haben: eine brücke zwischen den kulturen, ohne arroganz, gönnerhaftigkeit und aufrechnerei. nun, am anfang dieses jahrhunderts, sind wir alle von dieser brücke meilen entfernt, Ihre landsleute wie die meinen, in ihrer mehrzahl.

die nächsten begegnungen waren von flüchtiger und negativer natur. ich las, was zwischen dem geheimrat und ludwig van beethoven passierte: die rede ist von jenem spaziergang in teplitz im jahre 1812. "könige und fürsten können wohl professoren machen und geheimräte und titel und ordensbänder umhängen, aber große menschen können sie nicht machen ..." schrieb beethoven an bettina von arnim. um dann genüßlich zu erzählen: "wir begegneten gestern auf dem heimweg der ganzen kaiserlichen familie ... und der goethe machte sich von meinem arme los, um sich an die seite zu stellen, ich mochte sagen, was ich wollte, ich konnte ihn keinen schritt weiter bringen ... ich sah zu meinem wahren spaß die prozession an goethe vorbeidefilieren, er stand mit abgezogenem hut tief gebückt an der seite ..." diese geschichte machte Sie für mich unsympathisch. vielleicht waren Sie nicht nur konservativ, vielleicht fürchteten Sie einfach die gewalt von beethovens seele, die Sie beunruhigen könnte. "beethoven ist leider eine ganz ungebändigte persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht." doch die weltgeschichte, herr geheimrat, besteht nicht nur aus genuß und ruhe - um jeden preis.

die zweite große enttäuschung trat ein, als ich mich friedrich hölderlin näherte und lesen mußte, was Sie, herr geheimrat, über ihn sagten: "... er soll kleine gedichte machen." hatten sie auch vor der persönlichkeit hölderlins angst bekommen und vor der gewalt seiner poesie; war sie auch ungebändigt für Sie?

die nächste begegnung mit Ihnen war noch schmerzlicher. nach der islamischen revolution und deren folgen suchte ich noch einmal in der geschichte der französischen revolution - diesem muster aller revolutionen - eine erklärung für das iranische desaster. naturgemäß suchte und entdeckte ich auch Ihre werke, von denen ich zwei im zuge meiner recherchen gelesen habe: "die belagerung von mainz" und "der bürgergeneral". ich war entsetzt. dort war der geheimrat richtig in seinem element: bieder, konservativ und reaktionär. exakt der gegensatz von dem, was einmal thomas mann von ihm behauptete: "... der jede weite und größe bejahte ..." der herr geheimrat versucht die französische revolution lächerlich zu machen, jene revolution, ohne deren errungenschaften wir alle heute entschieden ärmer wären. plötzlich bekam ich den eindruck, daß auch der herr goethe die makellosigkeit mit wahrheit verwechselt. denn er war ja gegen die tyrannei in frankreich; aber blut sollte nicht fließen - die uralte angst der deutschen seele. "ich glaube an eine künftige revolution der gesinnungen und vorstellungsarten, die alles bisherige schamrot machen wird." fast wie eine replik auf Ihre unzulänglichkeit mutet diese passage aus einem brief hölderlins an johann gottfried ebel an. erstaunlich, wie wenig Sie bei dieser frage von menschen und ihren neigungen verstanden haben. und wieviel mehr eben hölderlin von menschen verstand, als er seinen empedokles sagen läßt: "ich weiß, wie dürres gras / entzünden sich die menschen." in Ihrer unbedingten verehrung der obrigkeit erinnern Sie mich an herrn luther: "gott ist es selber, wenn die obrigkeit straft", und an seine brutale parteinahme in der frage der bauernkriege. wie luther haben sie immer in der stunde x zur obrigkeit gehalten; eine fatale deutsche haltung - bis heute.

die endgültige versöhnung mit dem geheimrat kam auf dem wege der liebe. meine geliebte, der wohl meine antipathie Ihnen gegenüber unverhältnismäßig schien, schlug vor, wir sollten den "faust" gemeinsam lesen. so geschehen. einen kalten winter lang haben wir Ihren "faust" gelesen, zeile um zeile, und haben um jede zeile gestritten und diskutiert.

kaum ein werk der weltliteratur, das ich kenne, hat mich so gefangengenommen wie dieses. hier wird die deutsche tragödie antizipiert: es braucht erst einen mephisto, damit faust - urdeutsch - aus seiner stube "beschränckt von all dem bücherhauff" herauskommt, um das leben zu genießen. "mein guter freund, das wird sich alles geben, / sobald du dir vertraust, / sobald weißt du zu leben." er verliebt sich in das goldene haar von margarete, begeht einen mord und taugt fortan nicht mehr für die liebe. "wie? du kannst nicht mehr küssen? / mein freund, so kurz von mir entfernt, / und hast's küssen verlernt?" mephistopheles als ein nachfolger des rattenfängers von hameln, ein urdeutsches bild und gleichzeitig eine universelle tragödie der versuchung - in einer sprache, die bis heute erschütternd schön ist.

wie kann aber der verfasser des "faust" werke wie "der bürgergeneral" schreiben? was für ein krasser widerspruch? oder hat varnhagen von ense recht, wenn er behauptet: "goethes ganze dichtung ist fast nur das bild der zerrüttung einer mit sich selber in zwiespalt geratenen welt"?

als delacroix Ihren "faust" illustrierte, sollen Sie zu herrn eckermann gesagt haben: "herr delacroix ist ein großes talent, das am "faust" die rechte nahrung gefunden hat." nicht nur er. generationen von künftigen lesern werden am "faust" die rechte nahrung finden.

der unterzeichner schließt sich mit dankbarkeit an.

Der Autor wird am 22. März in Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.

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