Eigentlich eine Krankheit

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Ich habe einen Freund, der an einem merkwürdigen Sprachleiden erkrankt ist, von dem er selber nichts weiß und das seine Persönlichkeit doch fast völlig bestimmt. In dem "Buch der Charaktere", das ich immer schreiben wollte, aber nie zuwegebringen werde, würde er als der "Eigentlich-Sager" firmieren. Fragt man ihn, wie es ihm gehe, antwortet er: "Eigentlich ganz gut." Wie es im Urlaub in Sardinien war, den man ihm im Herbst noch an der nur langsam schmelzenden Bräune seines melancholisch geschnittenen Gesichts anmerkt: "Eigentlich sehr schön."

Das Besondere am Sprachleiden meines Freundes ist, dass für ihn nichts einfach schön oder gut, sondern immer nur eigentlich so ist. Wenn etwas eigentlich schön ist, kann das zweierlei bedeuten: Erstens, dass man damit nicht rechnen konnte und man noch immer überrascht darüber ist; zweitens und viel häufiger aber, dass es eben gar nicht wirklich, sondern nur eigentlich schön ist, was viel weniger als wirklich schön ist, gewissermaßen eine Schönheit, die man unter der Bedingung anerkennt, dass es eigentlich überhaupt nichts wirklich Schönes auf der Welt gibt.

Das Eigentliche ist die Krankheit meines Freundes, er schleppt sie schon Jahrzehnte mit sich, die eigentlich gar nicht so schlimm für ihn waren, der eine nette Familie, einen guten Job und prächtige Freunde wie mich hat. Die Krankheit hindert ihn, einmal richtig glücklich oder richtig erbost zu sein, von Herzen ergriffen oder redlich empört. Denn das Eigentliche hat nicht nur sein Empfinden für das Rühmenswerte auf der Welt zersetzt, sondern auch jenes für das Verdammenswürdige. Dass neuerdings Konzerne in derselben Pressekonferenz ankündigen, ihren Aktionären die fettesten Gewinne seit Jahren auszahlen zu können und sie dennoch in den nächsten Monaten ein paar Hundert Menschen entlassen werden, ist für meinen Freund "eigentlich ein Skandal". Aber eben nur eigentlich.

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