Eigentlich stehen wir -aber wo genau?

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Intendantin Veronica Kaup-Hasler eröffnete am Wochenende ihren letzten steirischen herbst: Das Festival versucht anlässlich seines 50-jährigen Bestehens eine Verortung, nimmt Bezug auf die Skandale von einst und blickt auf die Rolle von Kunst(schaffenden) heute.

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Intendantin Veronica Kaup-Hasler eröffnete am Wochenende ihren letzten steirischen herbst: Das Festival versucht anlässlich seines 50-jährigen Bestehens eine Verortung, nimmt Bezug auf die Skandale von einst und blickt auf die Rolle von Kunst(schaffenden) heute.

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Der steirische herbst startete in sein 50. Jahr. Als interdisziplinäres Festival für zeitgenössische Kunst hat er sich über all die Jahre immer wieder neu erfunden und positioniert. Intendanten kamen, stellten die Vorhut und gingen. Aus dem Schatten einstiger Skandale längst herausgetreten, hatte die mit insgesamt zwölf Jahren am längsten wirkende Intendantin Veronica Kaup-Hasler auch heuer keinen Grund, dem Festival die Wechseljahre zu versprechen.

Dem Festival sind phasenweise ja immer noch die Kinderschuhe anzusehen. Zumindest sieht das der in New York lehrende Komponist Georg Friedrich Haas so. In seiner Rede an das Geburtstagskind herbst, die er im Rahmen eines offiziellen Festakts des Landes Steiermark bereits Tage vor der Eröffnung hielt, verwies er unverhohlen auf den braunen Gatsch, der seit der Gründung dem Festival an der Sohle haftet. Und das sich seither redlich bemüht, das gespenstische Dreckszeug der Vergangenheit loszuwerden. Die Herausforderung für Kunstschaffenden werde es auch in Zukunft sein, den "Virus der Humanität zu verbreiten", so Haas in seiner fulminanten Rede.

"Where are we now?"

Einem Festival also, dem, wie Kaup-Hasler sagt, "der genetische Code der permanenten Neucodierung eingeschrieben" sei, kann und muss man zutrauen, so etwas wie künstlerische Beständigkeit zu produzieren. Bekanntlich leben die Toten ja am längsten. Und für tot erklärte man den Herbst bereits in den 1970er-Jahren. Aber auch Tote sollten sich fragen, wo sie bleiben. Nur logisch, dass das heurige Motto des Festivals "Where are we now?", eine Liedzeile von David Bowie, lauten musste und sich damit um eine Neuverortung von Kunst und Gesellschaft bemüht.

Auch flankiert eine Reihe von Publikationen diesen diskursiven Eifer. So erschien das "herbstbuch 1968-2017" (siehe unten) sowie der High-Ästhetik-Band "Where are we now? Positionen zum Hier und Jetzt", der führende Theoretiker und namhafte Künstler zur Zeitdiagnostik versammelt.

Aber jede Theorie braucht auch ihren Boden unter den Füßen. So schlug man nach Jahren des Herumwanderns in der Stadt heuer im Palais Attems seine Zelte auf, an dem Ort, wo seit 1985 das Programm gemacht wird. Der Architekt Thomas Herzig überdachte dafür den Innenraum mit einem transparenten Plastikdach, welches sich wie eine Lotusblüte schließt und wieder öffnet, während die Grazer Architektengruppe Studio Magic die barocke Außenfassade um eine raumgreifende Ausbuchtung aus Holz (vergrößerten Panzersperren nicht unähnlich) erweitert hat.

Unweit davon jedenfalls entstand im GrazMuseum die vom steirischen herbst in Auftrag gegebene Gedächtnisschau "Diese Wildnis hat Kultur". Diese wunderbare Feststellung stammt übrigens von dem 2005 verstorbenen Grazer Konzeptkünstler Jörg Schlick. Sie zeigt völlig unaufgeregt die 50-jährige Geschichte dieses Festivals, welches vor allem für seine Aufreger bekannt war. Die Spuren, die es im öffentlichen Raum hinterlassen hat, werden dabei ebenso aufgesucht, wie sein mitunter schriller Nachhall in der Welt der Kunst, in den Medien und in der Bevölkerung. Dieses hochkreative Chaos hat also System, und das ist wirklich beachtlich.

Prometheus in der Neuen Galerie

Weniger beachtlich ist die zweite, vom herbst verantwortete Ausstellung in der Neuen Galerie "Prometheus Unbound. Der entfesselte Prometheus". Kurator Luigi Fassi greift bei seiner Standortsuche auf den wohl mächtigsten Mythos in der abendländischen Geschichte zurück und vergisst dabei, sich die Finger zu verbrennen. Die sechs gezeigten Positionen, unter anderem eine Arbeit des Brasilianers Jonathas de Andrade, die sich auf eine fragwürdige UNESCO-Studie aus dem Jahr 1952 bezieht, leuchten allesamt nur bedingt ein und überzeugen kaum in ihrer künstlerischen Arbeit am Mythos.

Nur bei der zur Einstimmung affichierten Prometheus-Parabel von Franz Kafka konnte man noch nachvollziehen, was es heißen könnte, sich den Kopf am Fels des Prometheus blutig zu schlagen. Aber der herbst sorgt auch in seinem fünfzigsten Jahr noch für Schauer-Erlebnisse. Denn die Knochen, die einstmals den Göttern überlassen wurden, weil man das Fleisch nach dem Feuerraub des Prometheus fortan selbst verzehren konnte, fanden sich am Eröffnungsabend in der Helmut List Halle wieder. Dort nämlich bestritt die dänische Starchoreografin Mette Ingvartsen mit "to come(extended)" als Fortführung einer frühen herbst-Produktion aus 2005 den ersten Festivalabend.

Freudvoll und opulent

Ingvartsens Arbeit zeigte 14 Tänzer und Tänzerinnen in hautengen, blauen Ganzkörperanzügen, die als völlig geschlechtsneutrale Projektionsflächen mit "sinnlichen, erotischen und sozialen Körpersprachen" experimentierten. - Diese anonyme und pornografische Körpermasse zog sich wie ein Lurch über den weißen Boden. Die Tänzer zugleich zu Leckenden wie Geleckten, zu Penetrierten wie Penetrierenden. Immer aber war das Setting auf der Bühne so gehalten, dass der Zuschauer die Rolle des Gaffenden übernahm. Man konnte also unangestrengt seine Unschuld bewahren -sofern man das wollte.

Im zweiten und dritten Teil des Abends allerdings gab es nichts mehr zu (ver)hüten. Splitternackte Tänzer stimmten uns, anfangs noch erstarrt, mit kollektiven Lustlauten auf eine Swingnummer ein, die sie zu Keuchenden ihrer selbst machte. Die Anstrengungen dieser freudvollen Erzeugungen waren ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

Am Ende schob man, um den Höhepunkt zu verlängern, auch noch einen acht Meter langen Tisch auf die Bühne, üppig beladen mit heimischen Köstlichkeiten. Eine opulente Tafel also, die, nachdem sie annähernd leer geräumt war, die alte Opfergabe der Menschheit freigab: riesige Knochen lagen zwischen den Speiseresten. Ob sich die Götter des postfaktischen Zeitalters gnädig erweisen werden? Wir werden sehen, ob sie in den kommenden drei Wochen was zu knabbern haben.

Eine Ausstellung im GrazMuseum zeigt völlig unaufgeregt die 50-jährige Geschichte dieses Festivals, welches vor allem für seine unzähligen Aufreger bekannt war.

steirischer herbst bis 15. Oktober 2017 verschiedene Veranstaltungsorte in der Steiermark www.steirischerherbst.at

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