Ein Alpträumer mit Glück

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"Flucht in die Vergangenheit" und "Einstellung des Verfahrens": Die Wiederentdeckung Emanuel Boves geht weiter ...

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"Flucht in die Vergangenheit" und "Einstellung des Verfahrens": Die Wiederentdeckung Emanuel Boves geht weiter ...

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Eigentlich hieß der hochangesehene französische Autor Emmanuel Bove (1898-1945) Bobovnikoff, hat 30 viel gelesene Bände Prosa veröffentlicht, geriet aber bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Die literarische Mode hatte sich mit Sartre, Camus, Aragon und so weiter radikal verändert. Doch in den siebziger Jahren wurde er wiederentdeckt, und jetzt liegen seine wichtigsten Werke in vielen Sprachen vor (sogar japanisch). Drei Romane hat Peter Handke ins Deutsche übertragen, eine Biographie des Erzählers kam 1994 in Frankreich heraus, die deutsche Fassung erschien 1995 bei Deuticke und beginnt mit einem herzlichen Gruß des österreichischen Dichters an den Verfasser Raymond Cousse.

Und nun erschienen, in einem Band vereinigt, auch "Flucht in die Nacht" und "Einstellung des Verfahrens". Beide Bücher wurden 1945 und 1946 in Frankreich posthum gedruckt und erst 1988 wieder aufgelegt. Sie berichten, zweiteilig, vom unglücklichsten Lebensabschnitt des Ich-Erzählers - keineswegs autobiographisch, doch können sie trotzdem als Psychogramm des rätselhaften Emmanuel Bove gelesen werden. Es ist die ergreifend fatalistische Sichtweise, die den Ton dieser Romane und des ganzen Romanciers ausmacht. Erzählt werden realistische Geschehnisse, doch wird jede kleinste Begebenheit und jede Begegnung mit kritischem Argwohn beurteilt, die eigene Person nicht ausgenommen.

Wer war dieser seltsame, hochbegabte Bove? Er entstammte einem ungewöhnlichen Familienmilieu. Sein Vater, ein russischer Jude, war wegen der überhandnehmenden Pogrome nach Deutschland emigriert und hatte sich schließlich in Paris niedergelassen. Die Mutter war Christin, deutsch sprechende Luxemburgerin, der Ehe entsprangen zwei Söhne, neben Emmanuel der jüngere Leon, doch lebte (schon lange vor der Geburt Leons) der Vater bei Emily, einer wohlhabenden Engländerin. Auch dieser Lebensgemeinschaft entsprang ein Sohn, und der spätere Dichter wuchs teils bei der Mutter, teils beim Vater auf. Erwachsen arbeitete er anfangs als Kellner, Taxifahrer und in anderen Gelegenheitsberufen, wurde zum Militärdienst eingezogen und heiratete 1921 eine Lehrerin aus gut situierter Familie. Nach der Geburt einer Tochter übersiedelte man nach Österreich, und hier schrieb er seinen ersten und berühmtesten Roman, "Mes amis" ("Meine Freunde", von Handke übersetzt). Er kehrte nach Frankreich zurück, wurde von der Colette entdeckt, und der Erstling war ein voller Erfolg. Bove schrieb nun und publizierte eifrig weiter.

1930 kommt es zur Scheidung und Wiederverheiratung mit der Tochter einer jüdischen Bankiersfamilie. 1940 fliehen beide nach Afrika. Bove weigerte sich, im besetzten Frankreich zu publizieren und zog sich in Algier eine tödliche Krankheit zu. Bald nach der Rückkehr starb er in Paris.

Genialer Beobachter Er war ein genial registrierender Beobachter und Selbstbeobachter am Rande der Paranoia. "Flucht in die Nacht" beginnt in einem deutschen Gefangenenlager, in dem es relativ glimpflich zugeht. Aber schon auf der zweiten Seite heißt es: "In den fünfeinhalb Monaten meiner Gefangenschaft dachte ich nur an Flucht." Es bleibt seine fixe Idee, 400 Kilometer quer durch Deutschland nach Frankreich entkommen zu können. Die Ich-Figur hat alle selbstquälerischen Eigenheiten, von denen der (zur Zeit der Niederschrift bereits schwer leidende) Autor geplagt war. Nach langwieriger Vorbereitung gelingt die Flucht, leider nicht wie geplant. Zwei Wachposten, aufmerksam geworden, werden mit einem Beil niedergeschlagen. So beginnt der Erzähler seine "Flucht in die Nacht", gemeinsam mit einem Dutzend Kameraden. Verdächtigungen, Uneinigkeit, Ängste und Hunger - die subtile Schilderung der Extremsituation wird immer wieder zum literarischen Fund in der frei erfundenen Geschichte. Einer nach dem anderen verläßt die Gruppe, doch stets findet man einen mitleidigen Bauern, der die Übrigen versteckt und proviantiert. Das sind beinahe märchenhafte Passagen. Zuletzt ist der Erzählende allein und gelangt über Belgien nach Paris. Schlußsatz: "Ich war gerettet, zumindest glaubte ich das."

"Einstellung des Verfahrens" beginnt mit dem Kapitel "Verwandte und Freunde". Paris ist besetzt, der Heimkehrer ist ausgebrochener Kriegsgefangener und muß annehmen, daß er die zwei Wächter erschlagen hat. Wird nach ihm gefahndet? Wie weit ist die französische Polizei involviert? Er muß sich sagen: Vielleicht ist "ein Preis auf meinen Kopf ausgesetzt"? Vor dem Krieg hat er sich als Maler versucht und war in der Bibliotheque Nationale bedienstet, jetzt lebt er quasi im Untergrund, schläft ständig wechselnd bei alten Bekannten oder ehemaligen Freundinnen, zwischendurch auch unter falschem Namen in zweifelhaften Hotels, die von Kurzzeitgästen keine Dokumente verlangen. Durch Vermittlung des Vaters (bei dem er nicht zu wohnen wagt) kommt er mit einem hochgestellten Behördenleiter in Kontakt, der nichts von einer Fahndung weiß, aber bei einer harmlosen Konfrontation mit der Polizei benimmt er sich derart verkrampft und ungeschickt aggressiv, daß man Verdacht schöpft und ihn in ins Gefängnis steckt. Er ist verzweifelt, glaubt sich verloren, doch weiß man nichts über ihn, und dank einer Protektion wird er bald freigelassen. Aber: "Ich mochte mir noch so oft wiederholen, daß ich gerettet war, es überfielen mich schreckliche Zweifel." Oder: "Nie zuvor hatte ich mich so deprimiert gefühlt."

Geängstigte Zauderer Endlich riskiert er es, die Demarkationslinie zu überqueren, er fährt weiter südwärts und kommt "am Fuße der Pyrenäen an". Dort findet er zwei Schlepper, die ihn auf Schleichwegen über die Grenze bringen sollen. Sie nehmen ihm fast sein ganzes Geld ab und lassen ihn stehen: "Ich hatte es mit Banditen zu tun gehabt."

Doch der Unglücksrabe hat immer unverhofftes Glück. Er geht weiter, kommt zu einem mitleidigen Ladenbesitzer, der ihm hilft und "ein Proviantpaket auf den Weg" mitgibt. Pessimistisch bleibt er bis zuletzt: "Zwei spanische Wachposten kommen auf mich zu. Ich wußte, sie würden mich ins Gefängnis bringen, aber das war mir egal: ich war frei."

Es ist unmöglich, im Nacherzählen den Rang dieser Charakterstudie über einen Fatalisten wirklich zu würdigen. Man muß sie gelesen haben. Im Gesamtwerk von Emmanuel Bove dominieren angstbeladene Zauderer, die jeden Entschluß hinterher bereuen. Übung macht den Meister: Am Ende seiner Laufbahn, dem Tode nah, zeichnete der französische Dichter geradezu suggestiv das innere Elend eines Menschen, der rettungslos von Lebensangst geplagt ist. Auf der vorletzten Seite, als er einer einfachen Familie begegnet, die aus natürlicher Nächstenliebe hilft und seinen morbiden Argwohn entkräftet, liest man: "Er wollte mir Geld geben. Ich fing an zu weinen. Sie waren zu gütig." Begreiflich, daß ihm vor einem spanischen Gefängnis keine Angst mehr übrig blieb.

FLUCHT IN DIE NACHT/EINSTELLUNG DES VERFAHRENS Von Emmanuel Bove. Aus dem Französischen von Thomas Laux. Verlag Franz Deuticke, Wien/München 1997. 335 Seiten, öS 285,

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