Ein Besuch im Wörtermuseum

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1.000 Goethe-Wörter mit vergessener oder neuer Bedeutung.

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1.000 Goethe-Wörter mit vergessener oder neuer Bedeutung.

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Ein sehr gebildeter Mensch mit Deutsch als Muttersprache beherrscht 20.000 bis 30.000 Wörter. Goethes Wortschatz samt seinen eigenen Neubildungen umfaßt 90.000 Wörter. Der Goethe-Forscher Wolfgang Schadewaldt hatte 1946 die Idee, diesen gewaltigen Kosmos aus Wörtern zu erfassen. 1947 wurde das Projekt begonnen. Ehe es in zehn Bänden erschienen sein wird, werden noch Jahrzehnte vergehen. Das "Goethe Wörterbuch" ist nämlich jetzt, im Jubeljahr anläßlich der 250. Wiederkehr von Goethes Geburtstag, erst beim dritten Band angekommen, der den Wortschatz von "einwenden" bis "Gesäusel" umfaßt.

Martin Müller, langjähriger Cheflektor beim Artemis Verlag in Zürich, wo auch eine 24bändige Ausgabe von Goethes Werken erschien, fand, daß interessierte Leser nicht so lange hingehalten werden sollten, um die Sprache des Weimaraners zu verstehen. Daher stellte er ein Lexikon zusammen, das eintausend Goethe-Wörter präsentiert, die ihre Bedeutung nicht mehr ohne Erklärung erschließen. Müller nennt sein Lexikon daher "Goethes merkwürdige Wörter".

Rund zwei Jahrhunderte trennen uns von Goethes Welt. Zwar sieht der Bildungskanon noch immer die schulische Auseinandersetzung mit seinen Dramen "Faust", "Iphigenie", "Tasso" und einigen Gedichten vor. Aber man muß nur junge Leute befragen: Sie empfinden die Goethe-Welt als sehr fremd. Das hat hauptsächlich mit der Sprache zu tun. Denn die Themen, die er aufgreift, sind ganz und gar nicht altmodisch. "So wie in einem Organismus immerfort Zellen absterben und sich neue bilden, ist auch der Organismus einer Sprache durch ständige Metamorphosen auf Mikro-Ebene geprägt. Das Umfeld eines Wortes ist heute schon nicht mehr ganz dasselbe wie gestern: für das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem gab es noch nie feste Wechselkurse. Wer immer sich mit Texten befaßt, hat mit dieser Problematik zu tun, ob sie ihm bewußt ist oder nicht."

Der Herausgeber des handlichen Lexikons hat seine Lesefrüchte zwar alphabetisch angeordnet, betont jedoch, daß sie vier verschiedenen Kategorien angehören. Ein Großteil der aufgenommenen Wörter ist uns Heutigen zwar bekannt, nicht aber ihr einstiger Sinn.

In seiner Autobiographie "Dichtung und Wahrheit" schreibt Goethe: "Mein Vater, von Karl dem Siebenten zum kaiserlichen Rat ernannt, und an dem Schicksal dieses unglücklichen Monarchen gemütlich teilnehmend, neigte sich mit der kleinern Familienhälfte gegen Preußen." Das Wort "gemütlich" erregt Anstoß. Es bedeutet hier "aus dem Gemüt kommend, herzlich, anrührend, gefühlvoll", und nicht, wie im heutigen Sprachgebrauch, "angenehm, bequem". Zu Recht weist der Kompilator auf folgendes hin: "Liest und denkt man unbedacht über solche Stellen hinweg, so läuft man schnell Gefahr, vielen kleinen Mißverständnissen zu unterliegen." Der aufmerksame Leser, der nicht über einen Text mit seinen Augen nur hinweghuscht, spürt, daß ihm bei alten Texten die Bedeutung verschwimmt. Hier helfen die Philologen, geben Aufklärung. Wissenschaftlich wird das so gemacht: Aus Tausenden Belegen, auch aus dem Wortschatz von Zeitgenossen Goethes, erkennt man durch Vergleiche, was ein Wort einst bedeutet hat.

Eine zweite Gruppe des neuen Lexikons umfaßt Wörter, die kaum mehr in Gebrauch sind. Wer weiß heute noch, daß "Asch" den Blumentopf oder irdenes Geschirr bezeichnete, aber auch die Esche, also einen Baum? Daß "der Lippen" den Rockschoß meint, an dem man jemanden packt? Oder daß eine "aufgespannte" Frau eine erregte Frau ist?

In jeder Familie gibt es einen Privatwortschatz, so auch zwischen Goethe und seiner Frau Christiane. Die Briefe der beiden strotzen von solchen Wörtern. Sie sind auch in seine Werke eingeflossen, etwa "äugeln": Schöne Augen machen, flirten. "Liebesqual verschmäht mein Herz, sanften Jammer, süßen Schmerz; nur vom Tücht'gen will ich wissen, heißem Äuglen, derben Küssen."

Goethe war auch kein Feind von Fremdwörtern. Wer würde bei ihm das Wort "Guerilla", also "Untergrundkämpfer" erwarten oder das Wort "penetrieren", also durchdringen, ergründen: "Es ist nicht das erstemal, daß jemand, von dem Interesse eines ganz besonderen Zustands penetriert, sich gedrungen fühlt, dieses Komplizierte darzustellen." Nicht berücksichtigt hat Martin Müller die zahlreichen dichterischen Neuprägungen und Augenblicksschöpfungen. Solche Wörter ergäben ein eigenes Lexikon, angefangen von "Blütendampf" bis zu "zypressenragend". Diesen Schatz können erst unsere Nachfahren im großen "Goethe Wörterbuch" heben.

Was ist der Zweck eines solchen Lexikons? Es bietet Hilfe beim Lesen von Goethe-Texten. Vorzüglich eignet es sich auch zum Schmökern. Der Sprachbewußte wird mit Staunen sehen, wieviel sich in unserer Muttersprache gewandelt hat. In diesem Wörter-Museum kann man schließlich auch ungeniert klauen und damit den heute gängigen sprachlichen Einheitsbrei ein wenig würzen.

Goethes merkwürdige Wörter. Ein Lexikon von Martin Müller. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. 216 Seiten, geb., öS 423,-/e 30,74

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