Ein bisschen geht noch!

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Mit der Schule beginnt für viele Kinder und Jugendliche auch wieder der Freizeitstress am Nachmittag. Über Familien zwischen Überforderung, Überwachung und Abstiegsangst.

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Mit der Schule beginnt für viele Kinder und Jugendliche auch wieder der Freizeitstress am Nachmittag. Über Familien zwischen Überforderung, Überwachung und Abstiegsangst.

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Der zwölfjährige Paul hat ein Problem: Jeden Abend muss er die Dinge in seinem Zimmer millimetergenau ordnen -jedes Spielzeug, jeden Bleistift, jedes Buch. Erst dann kann er einschlafen, was wenig überraschend zu chronischer Übermüdung führt. Pauls Zwangsstörung muss also therapeutisch handelt werden, doch wann bloß? Zweimal pro Woche spielt Paul Fußball (am Samstag häufig mit einem Turnier), einmal besucht er den Klarinettenunterricht und einmal hat er Schach. Dazu kommt noch zweimal Unterricht bis 15 Uhr. Das alles ist nicht nur ziemlich viel für einen Zwölfjährigen, es macht ihn auch höchstwahrscheinlich krank. "Paul ist ein kindlicher Prototyp für einen Menschen, der vom Kalender bestimmt wird", weiß Michael Schulte-Markwort, "und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann er so erschöpft ist, dass sich eine Depression unaufhaltbar entwickeln wird."

Seit 27 Jahren ist Schulte-Markwort als Kinder-und Jugendpsychiater tätig, derzeit als ärztlicher Direktor der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Übertreibungen à la "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" oder ständiges Krankjammern sind ihm fremd. Und doch wird er immer öfter mit jungen Menschen konfrontiert, bei denen er eine Erschöpfungsdepression - besser bekannt als "Burnout" - diagnostizieren muss. "Je mehr es wurden, desto mehr wurde mir klar, dass sich tatsächlich ein Krankheitsbild aus der Erwachsenenwelt zu den Kindern verschiebt", schreibt Schulte-Markwort in seinem Buch "Burnout-Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert".

Kindheit ohne Spielräume

Der Freizeitstress, dem immer mehr Kinder -insbesondere aus bildungsaffinen und von Abstiegsangst geplagten Mittelstandsfamilien - ausgesetzt werden, ist nach Ansicht des Arztes jedenfalls nur die Folge einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Schulte-Markwort ortet eine "alle Lebensbereiche durchdringende Ökonomisierung, in der alles gemessen und bewertet wird". Kein Wunder, dass die bestmögliche Förderung des Nachwuchses (der immer öfter aus nur einem Kind besteht!) zum obersten Prinzip wird - koste es, was es wolle. "Kindheit heute ist überfrachtet mit optimaler Förderung und dem Bemühen, größtmögliche Entscheidungsfreiräume für die beste Entwicklung entstehen zu lassen", schreibt Schulte-Markwort. Doch diese Freiräume seien "widersinnig besetzt mit Anstrengung - und nicht mit einem Gefühl von entlastender Freiheit."

Die Spielräume werden jedenfalls immer enger - und zwar nicht nur zeitlich, sondern auch platzmäßig: Laut einer aktuellen Online-Befragung der deutschen Wochenzeitung Die Zeit lassen 40 Prozent der Eltern von Fünf- bis 15-Jährigen ihr Kind nicht unbeaufsichtigt nach draußen. 73 Prozent geben an, jederzeit zu wissen, wo sich ihr Kind befindet. 50 Prozent davon würden ein noch besseres Gefühl haben, wenn sie ihr Kind mit dem Handy orten könnten. Diese Dauerüberwachung ängstlicher "Helikopter-Eltern" geht nicht selten Hand in Hand mit den Perfektionsansprüchen nonstop vergleichender "Tigermoms". Statt Kinder frei in der Umgebung spielen und sich dabei in der Gruppe erproben zu lassen, chauffiert Mama sie lieber vom Ballett zum Tenniskurs. Für den 2011 verstorbenen Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann eine "teuflische Mischung" aus Leistungsdruck und Verwöhnung, wie er in seinem letzten Buch "Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung" (Kösel) schrieb. Die Folge seien Kinder, die nicht nur unselbständig und ängstlich, sondern oft auch unruhig und zappelig würden.

Wie groß der Stressfaktor im Leben von Kindern und Jugendlichen mittlerweile ist, hat Ende Juni eine neue Studie der Universität Bielefeld gezeigt. Jedes sechste Kind und jeder fünfte Jugendliche fühlt sich demnach gestresst. Besonders betroffen sind jene Kinder, die von ihren Eltern ständig Leistung vorgelebt bekommen. Umso wichtiger ist es für Mütter und Väter, selbst an ihrem gehetzten Lebensstil zu arbeiten, gelassener zu werden - und den Kalender ihrer Kinder nicht mit Terminen anzufüllen.

Dafür plädiert auch Leonhard Thun-Hohenstein, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Salzburger Christian-Doppler-Klinik. Was den Umgang mit und die Förderung von Kindern betrifft, so empfiehlt er vier Grundsätze: Anerkennung des Bemühens der Kinder, nicht nur des Ergebnisses; Anregung durch eine Umgebung, die Kinder zum selbständigen Erforschen und Denken motiviert; Anleitung im Sinn von Hilfestellung beim Experimentieren, ohne die Lösung vorzugeben; und Auseinandersetzung im Sinne eines Austauschs über die eigenen Innenwelten. Für all das braucht es aber gemeinsame Zeit, betont Thun-Hohenstein gegenüber der FURCHE: "Es braucht gemeinsame, emotional bereichernde Erlebnisse und eine regelmäßige Tagesstruktur, in der es etwa auch gemeinsame Mahlzeiten gibt."

Sein Hamburger Fachkollege Michael Schulte-Markwort nennt das "Inseln der Gemeinsamkeit". Und ja, natürlich gehe es auch darum, die Zahl der Nachmittagsbeschäftigungen auf ein sinnvolles Maß zu beschränken. Schulte-Markwort schlägt vor, gemeinsam mit dem Kind die Liste der Aktivitäten durchzugehen und Prioritäten zu setzen. "Das eigene Kind so zu ,scannen', dass wirklich im Kind angelegte Talente entdeckt und gefördert werden und es nicht darum geht, dass das Kind die Wünsche der Eltern lebt", sei natürlich schwierig. Aber man muss es trotzdem probieren.

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