Ein Blick Auf Den Balkon Europas

Werbung
Werbung
Werbung

In Georgien ist es gut zu wissen, dass man sich im ältesten christlichen Staatswesen der Welt befindet und der Rustaweli-Boulvard, der sich mit elegantem Schwung durch die georgische Hauptstadt Tiflis zieht, nach dem Autor des Nationalepos "Der Recke im Tigerfell" benannt wurde. Aber reicht das? Um dem Informationsdefizit über die Kaukasusrepublik abzuhelfen, hat sich die georgische Regierung zu einer Investition von sechs Millionen Euro entschlossen und etwa 70 Schriftsteller nach Europa geschickt: Mit der klaren Aufgabe, Georgien (wieder?) in den europäischen kulturellen Kontext zu stellen. Als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse bietet sich dafür auch die beste Gelegenheit. "Eine Jahrhundertchance für Georgien", wie der junge Romancier Davit Gabunia dazu bemerkt, "wir haben das große Los gezogen!"

Für das Land an der Schnittstelle imperialer Interessen -von Russland versus Persien bis zu den gescheiterten NATO-Ambitionen, die mit der russischen Invasion in Südossetien und Abchasien endeten - hat die georgische Literatur, die eigene Sprache mit ihren girlandengleichen Buchstaben einheitsstiftenden Charakter. Abgeschlossen und zugleich von einer sprichwörtlichen Gastfreundschaft, "nicht Europa und gewiss nicht Asien" (Davit Gabunia) bedarf Georgien doch eines gewieften Cicerone, um dem Interessierten zumindest eine gewisse Orientierung zu vermitteln.

Georgische Poesie

Sehr hilfreich erweist sich dabei das Buch eines weniger bekannten DDR-Autors mit einer umständlichen Entstehungsgeschichte und einer komplizierten Struktur, aus dem man allerdings eine ganze Menge über Georgien und seine Poesie lernen kann: Beginnen wir damit, dass mit Adolf Endler (1930-2009) ein Essayist zu entdecken ist, der ein wunderbar gepflegtes, bildungssattes Deutsch schreibt. In den Siebzigerjahren bereiste der zusammen mit dem Lyriker Rainer Kirsch das sowjetische Georgien: Die beiden bekamen in Tiflis einen zwanzig Zentimeter hohen Stapel georgischer Poesie aus acht Jahrhunderten in deutscher Interlinearübersetzung über den Tisch geschoben und mussten loslegen. Es galt, nicht weniger als achttausend rohe Verszeilen in deutsche Dichtung zu verwandeln. Soviel zu den kulturpolitischen Gepflogenheiten zwischen der DDR und der Sowjetunion.

Kirsch und Endler haben danach reichlich publiziert, Bücher wurden herausgegeben, Essays verfasst. Für Adolf Endler hat nun seine Tochter Brigitte Schreier-Endler das Material des Vaters neu gesichtet, geordnet und herausgegeben. Die Mühe hat sich gelohnt. Der Band vereint zwei literarische Essays, eine Einführung in die ältere georgische Poesie, einen Aufsatz über den hochproblematischen Grigol Robakidse und nicht zuletzt eine Blütenlese georgischer Lyrik von ihren Anfängen bis zur Moderne.

Offen für die Exotik des Kaukasus

Die Reise "auf den Balkon Europas" hat Adolf Endler tief beeindruckt: Vom griechischen Kolchis der Medea wird der Erzählfaden bis hin zu Bertha von Suttner gesponnen. (Ein schönes Beispiel dafür, wie eine Mesalliance jemanden nicht nur menschlich, sondern auch geografisch ein ganzes Stück weiterbringt!) Wie überhaupt die Reisetätigkeit europäischer Abenteurer und Privatgelehrter von Endler mit einigem Genuss ausgebreitet wird. Wichtiger aber noch, dass er perfekt vorbereitet und offen für die Exotik des Kaukasus an die Aufgabe herangeht. Dank seines poetischen Talents gelingen ihm großartige Beschreibungen von Land und Leuten. Gleichzeitig macht er den Leser mit den wichtigsten literarischen Strömungen bekannt.

Die Vernichtung der georgischen Intelligenz durch Stalin (als Zeugen seiner politischen Anfänge?) kann nicht offen angesprochen werden, der Georgier Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili bleibt ein blinder Fleck, wer aber zu lesen versteht, wird doch staunen, was hier alles subkutan mitgeliefert wird.

In dunkelsten Farben

Der kurze Essay über Grigol Robakidse (1882 bis 1962), den Autor des Romans "Die Schlangenhaut", konnte in der DDR nicht erscheinen. In der Geschichte dieses Autors, der von Stefan Zweig gefördert wurde und dem Boris Pasternak zutraute, er könne das "Rätsel Georgiens" lösen, spiegelt sich das zwanzigste Jahrhundert in seinen dunkelsten Farben. Der Mitbegründer der georgischen Künstlervereinigung "Blaue Hörner" wurde seiner expressionistischen Prosa wegen gerne mit Hans Henny Jahnn verglichen. Er war in der Nachkriegszeit im diplomatischen Dienst. 1931 ging er nach Deutschland ins Exil. Wahrscheinlich war er das größte Talent seiner Generation, sein Buch "Adolf Hitler von einem fremden Dichter gesehen" bleibt gleichwohl unentschuldbar.

Endler widmet sich im Zusammenhang mit Robakidse auch kurz dem Deutsch schreibenden georgischen Schriftsteller Giwi Margwelaschwili, der Anfang der 1990er-Jahre seinen autobiografischen Roman "Kapitän Wakusch" (in zwei Bänden) veröffentlichte. Giwi Margwelaschwili, 1924 als Sohn georgischer Emigranten in Berlin geboren, wurde Anfang 1946 durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD zusammen mit seinem Vater nach Ostberlin entführt, 18 Monate im Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen interniert und anschließend nach Georgien ausgewiesen. Sein Vater wurde erschossen.

Sollte es diesmal gelingen, Giwi Margwelaschwili bekannt(er) zu machen? Margwelaschwili schreibt schwierige Texte, er ist Autor, Philosoph und Literaturtheoretiker und sein Schreiben ist immer mit höchster Selbstreflexion verbunden. Für jemanden, der sich dank seiner Mehrsprachigkeit, seiner literarischen Kompetenz durch das zwanzigste Jahrhundert retten konnte, ist das Leben literarischer Figuren naturgemäß keine Nebensache. Es ist der Leser, der die Buchstabenwelt belebt - und das, was bei der Lektüre selbst der ältesten Texte immer wieder neu entsteht, ist das eigentliche Thema seines Denkens und Schreibens. "Die Medea von Kolchis in Kolchos" bringt einen künstlichen Leser ins Spiel und sollte seine These richtig sein, dass allein der Leser das Werk am Leben erhält, so ist die Einführung eines künstlichen Lesers natürlich ein Ausweg Es ist eine fremdartige Welt, in die die realen Leser hier eintreten, reine Literatur, die auf Rückübersetzbarkeit in Lebenswirklichkeit keinen Wert mehr legt.

Genauer Blick aufs triste Land

Über Nino Haratischwilis 1279-Seiten-Roman "Das achte Leben (Für Brilka)" ist schon viel (und meist nur Gutes) geschrieben worden. Die 1983 in Tiflis geborene Haratischwili ist eine in Hamburg lebende Theaterautorin und Regisseurin. Sie hat das 2014 erschienene Buch auf Deutsch geschrieben. Die georgische Familiensaga erstreckt sich über sechs Generationen und ist hinreißend erzählt: Spannend, mit klarer Figurenzeichnung, überall da stark, wo es um Emotionen geht, um persönliche Schicksale. Hier gelingt Haratischwili einiges, der innere Film läuft, das Kopfkino funktioniert und 1279 Seiten bieten reichlich Stoff für Leseratten.

Dort allerdings, wo der Roman mit erklärenden historischen Daten unterfüttert wird, werden Probleme sichtbar: Die Prosa referiert und wirkt oft arg simplifizierend. Wenn etwa von Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Beria die Rede ist (und Beria spielt in einer Episode eine tragende Rolle), dann wird sein Name nicht genannt. Es ist dieser "Kunstgriff", der den Verdacht nährt, dass Haratischwili ihre Figuren vor der realen Geschichte in Schutz nehmen muss, dass die Zeitläufte soviel "Schicksal" und soviel "buntes Leben" in Wirklichkeit gar nicht vertragen!

Haratischwilis jüngster Roman erschien im Vorfeld zur Frankfurter Buchmesse: "Die Katze und der General". Hier geht es um den Krieg in Tschetschenien. Der Kaukasus also bleibt ihr Thema und es ist spannend zu verfolgen, wie der Kampf zwischen der Freude am Fabulieren und der extremen Grausamkeit der politischen Realität diesmal ausgeht.

Abschließend sei noch an das Reisebuch von Clemens Eich (1954 bis 1998) aus dem Jahr 1999 erinnert: "Aufzeichnungen aus Georgien". Der Sohn von Ilse Aichinger und Günter Eich hat vor seinem Unfalltod an einem Reisebericht über Georgien gearbeitet. Der Text ist Fragment geblieben, aber zusammen mit den noch unbearbeiteten Reisenotizen (oft sind es nur Stichworte und Gedankensplitter) ist doch ein schmaler Band von bemerkenswerter Dichte entstanden. Wer Gelegenheit hatte, das Land in den späten 1990er-Jahren zu bereisen, wird bestätigen können, dass Eich einen sehr genauen Blick für die damals überaus triste Lage des Landes mitbrachte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung