Ein dunkel glänzendes Stück Geschichte

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Die belgische Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker eröffnete mit ihrem Tanzstück "Cesena“ den steirischen Herbst und zeigte einen Tanzplatz von albtraumhafter Intensität.

Der diesjährige steirische herbst steht unter dem Motto "Zweite Welten“. Kulturelle, soziale, politische und psychologische Systeme werden, wie auch schon in den Jahren zuvor in der Intendanz von Veronica Kaup-Hasler, in unterschiedlichsten Kunstsparten nach relevanten Anknüpfungspunkten befragt: Nach "Virtuosität“ oder "Strategien zur Unglücksvermeidung“ ist es diesmal das Spiel mit realen und fiktiven Alternativen zum Ist-Zustand der Welt. Künstler, Theoretiker und Kuratoren sind in Graz in den kommenden drei Wochen geladen, utopische und parallele Welten, mögliche und unmögliche Welten zu entdecken: von der Anwesenheit von Geistern über die Welt des Kranken bis hin zu Reisen in fremde Kulturen oder einfach zu versteckten Parallelwelten innerhalb unserer eigenen.

Festivalmeile für Geisterbeschwörung

Im besten Fall also sollten Möglichkeiten gefunden werden, die uns die Dinge anders sehen lassen. Etwas umzugestalten, ist dabei in der Tat eine Möglichkeit. So richtet der herbst auch heuer wieder ein Festivalzentrum ein, diesmal sogar einen kleinen Innenstadtdistrikt, der sich über ein paar Häuser zieht. Überdimensionale Neonleuchtwörter wie "ONLY“ oder "SILENCE“ der slowenischen Künstlerin Marusa Sagadin beschriften die Stadt neu. So wird die Szene rund um das Hotel Mariahilf zur Albtraumsammelstelle und Festivalmeile für Geisterbeschwörung - und das macht das Festival jung aussehend. Parallelwelten zu dieser Erlebniszone sind allerdings erforderlich!

Der Auftakt war hingegen viel versprechend: Wie aus einer anderen Welt schien Anne Teresa De Keersmaekers und Björn Schmelzers Tanztheater "Cesena“ zu kommen. Mit 40 Prozent Tanz, 40 Prozent Gesang, zehn Prozent Klarheit und zehn Prozent Schönheit wurde es angekündigt. Dass Musik aus dem 14. Jahrhundert allerdings ein Avantgardefestival eröffnet, welches einmal als Marke "steirischer herbst“ mit öffentlichen Stadtärgernissen notwendig verbunden war, ist als zeitgeschichtliche Pikanterie festzuhalten. Die eigene Präsenz wurde indes für manche zum Ärgernis: Der permanente Klang des Mittelalters hatte den Toleranzbogen offensichtlich überspannt und ließ viele flüchten. Zudem hielt auch ein sprichwörtlicher "Dämmerzustand“ zu lange an, der nur in den ersten Reihen intensiv miterlebt werden konnte. Die für diese Art von Lichtführung viel zu hoch bestuhlte Helmut-List-Halle ließ zu viele zu wenig sehen.

"Cesena“ wurde für Graz neu konzipiert und nach der Uraufführung in Avignon erstmals in einem geschlossenen Raum gezeigt. Der Innenhof im Palais des Papstes als erster Aufführungsort war begründet, war doch Robert von Genf, dessen spätere Wahl zum Gegenpapst (als Clemens VII.) in Avignon 1378 zum abendländischen Schisma führte, schuld am Massaker an 4000 Bürgern des italienischen Städtchens Cesena. Es war natürlich ein großes Wagnis mit diesem Tanztheater in einen geschichtslosen Innenraum zu gehen und den Aufgang der Sonne durch etwa 40 Neonröhren zu ersetzen. Die Aufführung begann in fast völliger Dunkelheit, nur vier Neonröhren leuchteten. Einzig ein großer Ring aus weißem Sand war auf der Bühne erkennbar. Einzelne Figuren erschienen, dann wieder Gruppen, im diffusen Licht ließ sich manches nur erahnen. Hörbar blieben nur die Spuren, die die 19 Tänzer des Ensembles "Rosas“ und die Sänger des Vokal-Ensembles "Graindelavoix“ durch ihre schleifenden Schritte und Gesänge hinterließen.

Auseinanderfallen von Körper und Seele

Mit zunehmender Helligkeit wurden ein grauenhaftes Gemetzel, das Tanzen invalider Körper, das Ausrinnen von Leben, das Nachzucken sichtbar. De Keersmaekers Tanzsprache in ihrer bestechend strengen und schmerzhaften Schönheit verbot sich jede Form von ästhetischer Übergriffigkeit. Und war der Musik unglaublich ähnlich, die auf faszinierende Weise zugleich weit entfernt und doch sehr nahe war. Dabei flossen Tänzer, die sangen, und Sänger, die tanzten, ineinander. Was für ein Albtraum muss es für diese Sänger gewesen sein, sich diese Bewegungsformen anzueignen! Welche Leidenschaft muss da anwesend gewesen sein!

Und im Aufbäumen der Sterbenden, im Auseinanderfallen von Körper und Seele verbreitete sich gegen Ende ein beinahe goldenes Licht - nicht nur auf der Bühne, sondern auch über die Zuschauer. Da war bereits eine Hallentür geöffnet, und man blickte ins Freie. Und es hatte fast den Eindruck, als könnte das Publikum teilhaben an einer numinosen Hoffnung, die plötzlich im Raum stand. Dennoch klingt - jenseits der Erwartungshaltung eines Eröffnungspublikums - die Frage nach, warum der herbst mit diesem dunkel glänzenden Stück Geschichte gestartet ist.

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