Adolf Holl - © Foto: Mirjam Reither

Ein Fall von Dekadenz

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„Im Grund freundlich“ war 1991 seine Analyse über Religion, Sexualität, Gewalt („Im Keller des Heiligtums“), meint Adolf Holl. Manches davon muss er heute revidieren.

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„Im Grund freundlich“ war 1991 seine Analyse über Religion, Sexualität, Gewalt („Im Keller des Heiligtums“), meint Adolf Holl. Manches davon muss er heute revidieren.

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Dass er am 13. Mai den 80er feiert, würde der Gesprächspartner, wüsste er es nicht besser, kaum vermuten: Adolf Holl, seit Jahren Ketzer der Nation, ist agil wie eh und je. Und macht sich zur katholischen Missbrauchskrise seine eigenen Gedanken.

DIE FURCHE: Vor einigen Jahren haben Sie im FURCHE-Interview über Religion und Sexualität gemeint: Es gebe keinen so erotischen Körper wie den der katholischen Kirche. Anno 2010 ist Sexualität und katholische Kirche das große Thema – allerdings nicht in Bezug auf Erotik, sondern auf Missbrauch.
Adolf Holl:
Meine Beschäftigung mit der verschwiegenen Obsession des katholischen Körpers, mit dem, was wir Sexualität nennen, ist jetzt ein Thema geworden, das mich zunächst einmal sprachlos lässt. Sprachlos hat mich gemacht, was jüngst in der Zeitschrift Kirche in als Titelgeschichte anonymisiert ausgebreitet wurde: Da wurde berichtet, dass im Jahr 1993 in einem geistlichen Haus mit Internat ein damals Zehnjähriger von drei Ordensleuten so hergenommen wurde, dass er ein paar Jahre später eine Invaliditätserklärung bekommen hat von der zuständigen Gesundheitsbehörde. Da sagte ich mir: Wie ist das möglich? Wenn das Ordensleute gewesen sind, hatten sie eine rigorose Erziehung hinter sich. Schon der Wunsch, in ein Ordenshaus einzutreten, wird sorgsam geprüft.Dann gibt es das Noviziat, das dauert ein Jahr, da lernt man die Ordensregel, da lernt man so etwas wie Spiritualität, man lernt Meditation, man besucht täglich eine heilige Messe, man betet den Rosenkranz, man erforscht das Gewissen, man geht einmal in der Woche beichten – so sind die groben Richtlinien für die Zulassung zu den zunächst zeitlichen Gelübden Armut, Keuschheit, Gehorsam oder dann auch zu ewigen Gelübden, die man ein Leben lang halten muss. Nach so einer Ausbildung kann ich mir schwer vorstellen, dass es gleich drei Personen waren, die einen Zehnjährigen monatelang so arg hergenommen haben, dass der dauerhafte Verletzungen davongetragen hat. Das verstehe ich nicht.

Ich experimentiere zurzeit mit einem anderen Kampfbegriff, um dem nahe zu kommen, was jetzt abläuft: Dekadenz.

Zurzeit laufen die drei immer noch frei herum und die Bemühungen der Mutter dieses jungen Mannes, der mittlerweile ja auch ein bisschen älter geworden ist, vor Gericht Recht zu bekommen, sind, stand in dem Artikel, bislang gescheitert. Hier muss ich zugeben, dass meine im Grund freundliche Analyse des Verhältnisses von Religion und Sexualität aus 1991 für so etwas, wie jetzt passiert, unzulänglich ist. Ich suche zurzeit nach einem anderen Kampfbegriff, um dem nahe zu kommen, was jetzt abläuft.

DIE FURCHE: Und haben Sie diesen Begriff schon gefunden?
Holl:
Ich experimentiere mit einem Begriff, der schon eine stattliche geistesgeschichtliche Tradition hat: Dekadenz. Mit diesem kenne ich mich ein bisschen aus: Man sollte da von Friedrich Nietzsche wissen und auch von „Alice im Wunderland“, es ist ein Begriff, der ins Künstlerische hineinspielt, der aber auch sagen will, dass in unserer Gesellschaft etwas kaputt geht. Ich meine, dass die Verwahrlosung im kirchlichen Bereich nicht isoliert zu betrachten ist, sondern im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Vorgängen, die ich als konsumeristisch bezeichne – nicht besonders originell, es hat schon Pier Paolo Pasolini registriert, dass wir in einer Konsumgesellschaft leben. Und deren Werte – nach denen der Herr Bundespräsident im Wahlkampf ja noch auf der Suche war, wenn ich den Plakaten trauen darf – sind einfach zu formulieren: Wellness und Sicherheit.

DIE FURCHE: Im zitierten FURCHE-Interview haben Sie auch diagnostiziert, dass die gegenwärtige Gesellschaft frigide ist, also keinen wirklichen Zugang zu Sexualität hat.
Holl:
Mein Blick auf den katholischen Körper, den ich als „erotisch tätowiert“, und auf die westliche Gesellschaft, die ich als frigide bezeichnet habe, hat sich nicht geändert. Der katholische Körper ist geblieben, was er ist: besessen von dem, was verboten ist. Und bei dem, was ich wahrnehme von den Menschen und von dem, was ihnen eingeredet wird, habe ich eine Abnahme der Erotik gegenüber 1991, als ich das Buch „Im Keller des Heiligtums“ geschrieben habe, und eine Zunahme der Frigidität zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt kommt diese Wellness daher, überall liegen diese schönen Frauen und genießen ihre Wellness und denken nicht einmal im Schlaf an den Mann oder an eine andere Frau oder an irgendwelchen Lustgewinn.

Und gleichzeitig tauchen auf einmal Auskünfte auf aus den verschwiegenen Tiefen des gesellschaftlichen Ganzen: über Väter, die es mit ihren Töchtern treiben, seitdem man denken kann; über Lehrer, die es mit ihren Schutzbefohlenen treiben; über Gewalt in der Familie. Das waren Vorgänge, die zwischen 1965 und 1985 verschwiegen wurden: Da waren wir alle sehr lustig, wir hatten gerade eine Verschnaufpause – die 400 Jahre lang dauernde Syphilis war nach dem II. Weltkrieg endlich ausgerottet, und wir hatten 20 Jahre Zeit, um ein bisschen lustig zu sein und keine Angst zu haben. Dann ist der nächste Schlag gekommen: Aids. Und was hinter Woodstock und den Beatles verschwiegen wurde, das kommt jetzt heraus – weil so etwas immer 20 Jahre dauert, bis die Menschen, denen das passiert ist, sich dem Ende des Lebens nähern. Darum tauchen jetzt Sachen aus den „fröhlichen“ Siebzigerjahren auf, die uns fassungslos machen.

DIE FURCHE: Sie haben kürzlich in einem Interview erzählt, dass Sie mit Sexualität nichts am Hut hatten, bis Sie ein Twen waren.
Holl:
Meine eigene Biografie war für mein Seelenleben günstig. Ich habe von mütterlicher Seite wortlos einen starken Vorbehalt gegen den Geschlechtsakt mitbekommen. Ich habe daher, als ich ins Priesterseminar eintrat, überhaupt keine Bedenken gehabt, dass mir der Zölibat einmal Schwierigkeiten bereiten könnte. Es ist erst stark geworden, als ich auf den 30er zugegangen bin. Heute ist die Vertrautheit der Heranwachsenden mit dem Geschlechtsakt altersmäßig heruntergegangen. Das hinterlässt möglicherweise Spuren, die nicht erfreulich sind. Ich drücke das ganz locker aus, denn die Kids machen eh, was sie wollen, und brauchen mich nicht dazu, ihnen über die Schulter zu schauen. In meinem Fall war es gut, dass ich erst spät aufgewacht bin.

DIE FURCHE: Was bedeuten die aktuellen Ereignisse für die katholische Kirche?
Holl:
Wir haben da einen Vorgang, den ich von ganzem Herzen begrüße, weil er biblisch inspiriert ist – vielleicht wider Willen: „Was euch im Verborgenen gesagt wurde, das rufet von den Dächern.“ Und der arme Heilige Vater sieht sich jetzt gezwungen, zwar nicht gleich auf das Dach des Apostolischen Palastes zu klettern, aber er muss sozusagen zizerlweise das preisgeben, was seit mindestens zehn Jahren auf seinem Schreibtisch gelegen ist. Ich weiß auch nicht, ob er den Satz „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ wirklich jeden Tag reflektiert. Es steht zwar nicht dabei, ob die Wahrheit immer angenehm sein muss. Aber Hauptsache, es ist die Wahrheit.

Ich bin sehr zufrieden, dass in diesem Apostolischen Palast ein paar biblische Fußtritte verabreicht werden. Denn der Skandal liegt nicht an der voyeuristischen Betrachtung seitens der Öffentlichkeit, sondern am Schweigeritual, an dieser Verschwiegenheit eines Gesellschaftskörpers, der strukturell schweigen muss – wenn die Prälaten nicht verschwiegen wären, könnten sie nicht mehr weitertun. Und dieses Verschweigen ist stracks entgegengesetzt dem Herrn und Meister. Das wissen wir längst, aber jetzt muss es heraus, und es gibt schon Bischöfe, die den Hut nehmen müssen, andere werden ihnen folgen. Und es wird ein Vorgang sein, der irreversibel ist. Hoffe ich.

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