Ein Faulpelz auf dem Baum

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Der Debütroman der Inderin Kiran Desai ist eine köstliche Satire auf die Wundergläubigkeit.

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Der Debütroman der Inderin Kiran Desai ist eine köstliche Satire auf die Wundergläubigkeit.

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Wer die indische Küche liebt und wem die Reise in ihr Herkunftsland ein allzu weites und gefährliches Abenteuer scheint, der kann entweder einfach eines der indischen Lokale in Wien besuchen, oder aber zu Kiran Desais Buch "Der Guru im Guavenbaum" greifen.

Die sinnlichen Genüsse des Essens spielen eine Hauptrolle in diesem Roman, denn Kulfi, die Frau von Mister Chawla, denkt vorrangig ans Essen. Das war schon während ihrer Schwangerschaft so und hat sich auch nicht geändert, während Sampath, ihr Sohn, zwanzig Jahre alt wurde. In der Poststation fristet der Junge ein belangloses Leben, in dem auch die Vorbereitungen für die Hochzeit der Tochter des Chefs, die durch Monate zum Aufgabenfeld der drei Angestellten gehören, nur eine kurze Abwechslung darstellen. Das Lesen aller Briefe der Ortsbewohner erweist sich jedoch als Investition in die Zukunft.

Als Sampath es satt hat, daß seine Familie ihn wegen seiner Erfolglosigkeit traktiert und überdies des Nachts ständig beim Einschlafen stört ("unüberhörbar selbstsüchtig arbeiteten sie sich geräuschvoll durch ihre Träume und hinderten Sampath, der sich hin und her wälzte, am Einschlafen"), flieht er seiner Freiheit entgegen. Er findet sie auf einem Guavenbaum und seine Wünsche gehen in Erfüllung: "Ach, wenn er sein Leben gegen die Fülle dieser Stille tauschen und lange Zeit hierbleiben und wie eine Katze das Gesicht dem Nachmittag zuwenden könnte, wie eine große Sonnenblume..."

Zuerst wird die Freiheit des Nichtstuns von der Familie ebenso wie von den restlichen Bewohnern des Ortes nur schwer ertragen. Doch dann wird der faule Sampath, der sich weigert, vom Baum zu steigen, zum Eremiten und Heiligen stilisiert und von seinem Vater klug und geschäftstüchtig vermarktet.

Wie die 28jährige Schriftstellerin Desai dieses Zusammenspiel von Gutgläubigkeit und Improvisation porträtiert, das läßt den Guru zu einem exemplarischen Fall für Massenhysterie werden, und dies umso plastischer, weil der Wellblechhüttencharakter des Wallfahrtsortes unsere Phantasie um so mehr anstachelt. Für die Predigten im Guavenbaum aber kommen Sampath die in jahrelanger Geheimlektüre aus den Briefen gewonnenen Informationen zugute.

Seine Weisheiten ähneln gelegentlich freilich auch einer Speisenkarte. "Manche Menschen können Fisch nur verdauen, wenn er in einem leichten Curry gekocht wurde. Andre sind von säuerlichem Charakter und sollten keinen sauer eingelegten Fisch essen. Im Süden lieben sie in Kokosmilch gekochten Fisch. Ich selbst mag Brachsenmakrele in einer Sauce mit Chili und Tamarinde..." lautet seine Antwort auf die Frage: "Auf welche Art erkennt man Gott besser? Durch Hingabe oder durch Erwerb von Wissen?" Wenn er keine Essensweisheiten von sich gibt, nimmt er die köstlichen Gerichte seiner Mutter zu sich oder schläft. Eine Hysterie erfaßt den Bezirk, Postkarten werden gedruckt und in überregionalen Zeitungen erscheinen Berichte. Während die heiligen Affen vor dem Auftreten des Eremiten nur die Frauen vor dem Kino belästigt haben, bewohnen sie nun gemeinsam mit Sampath den Guavenbaum und terrorisieren die Bewohner, da sie auch auf alkoholische Getränke nicht mehr verzichten wollen. Die Opfergaben am Fuße des Baumes aber werden des Nachts von der Familie entfernt und im Laden ein zweitesmal verkauft.

Selbst die Aufklärer wie der Vertreter der atheistischen Gesellschaft, der, um das Rätsel zu lösen, ebenfalls unter dem Guavenbaum lebt und nach kurzer Zeit in platten, blumigen Kalendersprüchen redet, werden zu Karikaturen, die umso lebendiger erscheinen, weil sich ihr Fanatismus wie auch die Gläubigkeit stufenlos vergrößert und der Leser sozusagen mitwächst, der Krone des Guavenbaumes entgegen. Worin liegt aber das Rätsel des Eremiten? Weil es so offensichtlich ist, sieht es niemand, will es niemand sehen: Es gibt kein Rätsel. Hinter die Dinge sehen zu wollen, ist manchmal nur Ablenkung, und das Geheimnis in Kochtöpfen finden zu wollen, kann tödlich sein: "Im Topf köchelten Kräuter, Gewürze, Früchte, eine köstliche Sauce. Und etwas anderes."

Die Erkenntnisfrucht des Guavenbaumes muß man sich selbst pflücken. Kiran Desai liefert eine plastische Schilderung eines indischen Dorfes und seiner Bewohner, eine im wahrsten Sinne köstliche Geschichte, bei der die dörfliche Apokalypse, der Showdown, um die der Dramatik angemessene Filmsprache zu verwenden, an einen anderen Meister der Literatur, an Salman Rushdie und seinen Roman "Des Mauren letzter Seufzer" erinnert.

Wir steigen nach 250 Seiten vom Guavenbaum und glauben, den Eremiten, seine Familie, den Eisverkäufer Hungry Hop und den ganzen Ort, mit einem Schmunzeln auf den Lippen zu kennen. Kann man von Literatur mehr verlangen?

Der Guru auf dem Guavenbaum Roman von Kiran Desai, Karl Blessing Verlag, München 1998, 252 Seiten, geb., öS 269,-

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